Der Ruf des Satyrs
Gesellschaft anderer junger Damen zurückgezogen, denn da verstand sie endlich, was ihre Mutter und Odette all die Jahre zu erklären versucht hatten. Dass sie anders war als andere Mädchen. Dass etwas an ihr beschämend war. Dass es gefährlich war, Leuten zu nahe zu kommen, die ihr wahres Wesen enthüllen konnten.
»Hmm, das fühlt sich gut an«, seufzte Eva und genoss das Gefühl der silbernen Bürste ihrer Mutter, die durch ihr Haar fuhr. »Genauso wie damals, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
»Bist immer noch mein kleines Mädchen. Und das wirste immer sein«, sagte Odette. »Deine
Maman,
die hatte Haare wie ’n Engel, aber du hast Haare wie ’ne Hexe. Wie bei deinem Vater.«
Eva runzelte die Stirn und legte eine Hand auf die Bürste an ihrem Haar. »Was?«
»Och, mein Fehler«, meinte Odette und strich ihr mit der Hand über das Haar. »Hab bloß zu viel an die Hochzeit gedacht.«
»Welche Hochzeit?«
»Na, deine mit dem Patrizzi,
bambina,
was ’n sonst?« Sie fing an, Evas Haar für die Nacht zu einem Zopf zu flechten – etwas, das sie nicht mehr getan hatte, seit Eva ein Teenager gewesen war.
Evas Stirnrunzeln vertiefte sich. »Hast du denn nicht gehört, was ich dir gestern Nacht erzählt habe? Man hat mich ertappt, in Danes Armen. Gaetano Patrizzi hat uns gesehen. Eine Heirat mit mir ist jetzt ganz sicher das Allerletzte, was er will.«
»Wird schon gutgehen mit deinem Gaetano, wirst schon sehn.« Odette tätschelte ihr den Arm.
Eva zog den Arm zurück, plötzlich von einem Gefühl der Unruhe erfüllt. »Du musst Scheuklappen tragen, wenn du glaubst, Signor Patrizzi würde mich jetzt noch zur Frau nehmen. Ich habe ihn so gut wie betrogen, und das in aller Öffentlichkeit! Ich bin nur froh, dass er nicht schon die Verlobung verkündet hatte, bevor es geschah.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Ich hab alles mit der Signora Patrizzi geregelt«, verkündete Odette stolz. »Wird alles gut.«
»Du hast mit seiner Mutter gesprochen?« Eva stand langsam auf und sah sie an. Dabei musste sie sich mit einer Hand auf dem Frisiertisch abstützen, denn plötzlich fühlte sie sich etwas benommen. »Wann? Und wie?«
»Denk nich’ drüber nach. Du kriegst, was de willst. Kannst deinen Mensch heiraten. Kriegst deine eigenen
bebes.
Dann musste se dir nich’ mehr von der Straße hol’n.« Odette lächelte und strich Evas Haar über die Schultern glatt. Dann glitten ihre Hände tiefer und legten sich auf Evas Brüste.
Eva stieß die Hände von sich und wich von ihr und dem Tisch zurück. Etwas Seltsames ging hier vor. »Odette, das ist unangebracht.«
Odette zuckte nur mit den Schultern und drehte die silberne Bürste in den Händen, während sie lange schwarze Haare daraus entfernte. Stolpernd wich Eva vor ihr zurück, ihre Gedanken wurden immer verwirrter. »Was du vorhin gesagt hast, über das Haar meines Vaters – woher weißt du, dass es dunkel war?«
Ein weit in die Ferne gerichteter Blick trat in Odettes Augen. »War ’n hübscher Kerl, dein Vater. Kann dir seinen Namen ja ruhig sagen, jetz’, wo Signora Patrizzi ihn weiß. Angelo Sontine. Fantine hat gedacht, ich seh’s nich’, dass se sich in ihn verguckt hat. Hab ich aber, bin ihn bloß zu spät losgeworden. Trotzdem, der musste bezahlen dafür, dass er dich in ihren Bauch gebracht hat. Und ich hab dafür gesorgt, dass er bezahlt.« Ein Lächeln überzog ihr runzeliges Gesicht. »Hab meine Gabe bei ihm benutzt. Hab doch tun müssen, was richtig für uns war. Das verstehste doch, nich’?« Sie wickelte Evas lange Haarsträhnen aus der Bürste um zwei Finger und steckte sie in den kleinen Beutel, den sie in ihrer Tasche trug.
»Und jetzt hast du vor, deine Gabe – deine Macht – auf mich anzuwenden?«, fragte Eva in der Annahme, Odette hätte vor, mit Hilfe der Haarsträhnen irgendeine Art von Magie zu wirken.
»Hab schon damit angefangen,
bebe.
Du bleibst schön ruhig hier in deinem Schlafzimmer, für ’ne Woche oder so. Dann hab ich Zeit, ’n paar Pläne wahr zu machen, die ich für den Herrn Satyr hab.«
Eva hob eine zitternde Hand an ihre Stirn und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Die Schokolade, die du den Mädchen und mir gegeben hast – darin war irgendetwas von deinen Wurzeln oder Gewürzen, nicht wahr?«
Odette legte einen Arm um Evas Rücken, und obwohl diese nicht wollte, stützte sie sich schwer auf Odette. Sie fühlte sich zu schläfrig, um Widerstand zu leisten. »Jetz’ ruhste dich einfach
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