Der Ruf des Satyrs
Frauenzeitschriften an, dass sich das sehr bald wieder ändern würde, doch im Augenblick diktierte die Mode schmale Taillen und enganliegende Kleider mit Schleppe.
Nachdem sie alle Verschlüsse des Kleides eingehakt hatte, zog sie lange weiße Handschuhe über, um die wunden Stellen an ihren Handgelenken von den Fesseln der letzten Nacht zu verbergen. »Geht jetzt, ihr beiden! Sucht Odette und Pinot, und bittet sie, unserem Gast mitzuteilen, dass ich gleich unten sein werde!«
»Warte!«, bettelte Mimi. »Keine Handschuhe! Trag den Schmuck deiner
Maman –
biiitte!«
»Ich gehe schon«, meinte die immer gehorsame Lena und verließ das Zimmer, um nach Odette zu suchen.
Mimi öffnete das emaillierte Kästchen auf Evas Frisiertisch, das sie schon vom ersten Augenblick an fasziniert hatte, und nahm eine Auswahl an Ringen, Halsketten und Armbändern heraus. Eva streifte die Handschuhe wieder ab und winkte ihr, näher zu kommen. »Dann beeil dich, und bring sie mir!«
Nachdem sie mehr als ausreichend mit Brillanten und Edelsteinen behängt war, erklärte Eva: »In Ordnung, jetzt ist es genug.« Sie warf einen Blick auf ihr Spiegelbild und lächelte reumütig. Das smaragdgrüne Ballkleid aus Taft mit seiner langen Schleppe und der reichliche Schmuck stellten eine alberne Wahl für den Vormittag dar. Doch das Gefühl von Stolz, das sie den Mädchen dadurch verlieh, dass sie es trug, machte das Ganze zu einer perfekten Wahl. Was machte es schon aus, wenn ihr Kunde sie für exzentrisch hielt? Leute ihres Gewerbes waren es für gewöhnlich.
Schnell lief sie mit Mimi die Treppe hinab und betrat den kleinen vornehmen Salon, der ihr als Geschäftszimmer diente. Ihr neuer Kunde stand schon dort und betrachtete eine Schachtel mit Mosaikrätseln, die ihrer Mutter gehört hatte und nun in einem Regal hinter ihrem Schreibtisch lag, mitten unter wunderlichen Märchenbüchern für Kinder, Zeitschriften, dicken Folianten und anderem Gerümpel.
Er wandte ihr den Rücken zu. Ein kräftiger Rücken mit breiten Schultern. Er hatte dunkles Haar und war mindestens einen Kopf größer als Eva. Und er kam ihr bekannt vor. In einem merkwürdigen Moment plötzlicher Erkenntnis begann es, in ihrem Nacken zu prickeln, und instinktiv wich sie einen Schritt zurück, fluchtbereit.
Er schien ihre Ankunft zu bemerken, denn er drehte sich zu ihr um und hielt inne, um sie mit seinen silbernen Augen zu mustern.
O Götter!
Er
war es! Der Mann vom Olivenhain.
Mimi hüpfte herein, doch Eva stand nur wie erstarrt in der Tür und wartete darauf, dass sie in seinem Gesicht lesen konnte, dass auch er sie erkannte. Doch da war nur gelinde Überraschung. Und Belustigung. Er war amüsiert über ihre Aufmachung.
Er erkannte sie nicht!
Dane setzte sich der Besitzerin des Schreibtisches gegenüber. Er war aufrichtig fasziniert, etwas, das ihm, solange er denken konnte, noch nie bei einer Frau passiert war. Er hatte sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, wie eine Heiratsvermittlerin und ihre Geschäftsräume wohl aussehen mochten, doch er war sicher, wenn, dann hätte er sich das hier ganz sicher nicht vorgestellt. Denn hier gab es absolut nichts Vorhersehbares, weder an diesem Raum noch an den seltsamen Menschen, die sich darin befanden.
Im Garten war er kurz befragt worden, bevor der kleine stämmige Mann, der offenbar mehr als nur ein paar Tropfen Koboldblut in sich hatte, ihn hereinbat. Ganz nach Natur der Kobolde war der Bursche auf finanzielle Dinge fixiert und hatte selbst auf dem Weg zum Salon noch das unverschämt hohe Honorar der Heiratsvermittlerin mit ihm erörtert. Als Nächstes war eine Dienerin erschienen, eine Mulattin mit mürrischem und misstrauischem Gesichtsausdruck. Ihr Blut bestand aus einer so bunten Mischung, dass es selbst für seine begnadete Nase unmöglich war, ihre Abstammung zu erkennen. Wahrscheinlich mochte sich über ein Dutzend verschiedener Völker der Anderwelt in ihrem Stammbaum befinden.
Dann waren die beiden kleinen Mädchen wieder aufgetaucht, die ihn zu Anfang in den Garten gelassen hatten. Sie saßen nun zusammen auf dem Teppich, die ältere zeichnete, und die jüngere spielte mit einer kleinen Dampflokomotive und gab dabei leise Geräusche wie ein Dampfmotor von sich.
Und nun sah Dane sich also dieser geheimnisvollen Frau gegenüber – Mademoiselle Evangeline Delacorte, wie sie sich nannte. Die Heiratsvermittlerin. Er saß ihr gegenüber, mit dem Schreibtisch zwischen ihnen, und studierte unauffällig
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