Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
verursachen.
Plötzlich zog die Schamanin ihre Hände ruckartig aus dem Körper der Kranken heraus. Triumphierend hielt sie etwas Dunkles in die Höhe.
Die Dorfbewohner brachen in Jubel aus.
Die kranke Frau setzte sich langsam auf. Die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, und es dauerte nicht lange, bis sie aufstehen und ihre Familie begrüßen konnte.
Die Schamanin wandte sich Runa zu und sah sie zufrieden, wenn nicht gar überheblich, an. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
Runa stand aufrecht und würdevoll vor ihren Begleitern. Ihr Gesicht war ausdruckslos. Es verriet nicht, was in diesem Augenblick in ihr vorging. Ruhig und ohne dem Blick der Schamanin auszuweichen, wartete sie ab. Sie ahnte, was die Schamanin vorhatte. Sie wollte herausfinden, wie es um Runas magische Fähigkeiten bestellt war und wer von ihnen die Mächtigere war.
Runa wollte sich eigentlich nicht mit der Schamanin messen, denn aus ihrer Sicht war es egoistisch und überheblich, mit den eigenen Fähigkeiten zu prahlen. Schamanen sollten allein im Dienst ihrer Mitmenschen stehen.
Runa blickte ruhig in die Runde. Dann streckte sie den Arm aus und deutete auf einen gesund aussehenden jungen Krieger. Augenblicklich fiel dieser leblos zu Boden.
Die fremde Schamanin forderte einen ihrer Krieger auf, nachzusehen, wie es um den jungen Mann bestellt war.
Der Krieger untersuchte ihn flüchtig und schüttelte entsetzt den Kopf.
Verärgert wandte sich die fremde Schamanin an Runa. Doch diese hob abwehrend die Hand und bedeutete ihr abzuwarten. Noch einmal streckte Runa ihren Arm aus und bewegte die Hand leicht nach oben.
Die Inselbewohner rissen die Augen auf. Der steife, leblose Körper des jungen Mannes bewegte sich in die Höhe und schwebte bald darauf gute zwei Ellenlängen über dem Boden. Dann lief ein Zittern durch seinen Körper. Ganz langsam kippte er, und sobald die Füße den Boden berührt hatten, blieb er stehen. Der junge Mann öffnete die Augen und sah verwirrt um sich.
Die Züge der fremden Schamanin entspannten sich. Runa hatte nicht nur ein Leben genommen, sondern auch Befehlsgewalt über den leblosen Körper gehabt und ihm schließlich neues Leben geschenkt.
Die Schamanin wandte sich mit knappen Worten an die Dorfbewohner. Runa konnte ihre Worte nicht verstehen, aber ihre Begleiter, noch immer an die Pfähle gefesselt, übersetzten sie.
»Vor einigen Wochen hatte ich einen starken Traum«, sprach die Schamanin. »Darin wurde mir gezeigt, dass ein großer Sturm eine mächtige Schamanin zu uns bringen wird, die auf einer wichtigen Reise ist und dabei von einer Gruppe von Männern begleitet wird. Der Traum zeigte mir deutlich, dass weder der Frau noch ihren Begleitern ein Leid zugefügt werden darf.« Sie machte eine Pause, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, und zeigte schließlich auf Runa. »Dies ist die Frau, von der mein Traum mir erzählt hat.«
Dann wandte sie sich direkt an Runa. »Sei uns willkommen, Schamanin. Du und deine Begleiter, ihr mögt so lange in unserem Dorf bleiben, wie ihr wollt. Hier wird euch kein Leid zugefügt werden. Ihr seid unsere Gäste.« Sie gab ihren Kriegern Anweisung, Runas Begleiter loszuschneiden, und wartete auf Runas Antwort.
Nachdem ihre Begleiter die Worte der Schamanin übersetzt hatten, fügten sie ein schnelles »Lass uns von hier verschwinden!« hinzu.
Runas Blick ruhte noch immer auf der Schamanin. »Deine Einladung ehrt mich sehr, große Schamanin, aber meine Reise ist sehr wichtig und duldet keinen Aufschub.«
»Dann wünscht ihr, sofort weiterzureisen?«
Runa wechselte ein paar Worte mit ihren Begleitern.
»Wir würden gern bis zur Morgendämmerung bleiben. Der Wind ist uns heute nicht wohlgesonnen.«
Am nächsten Morgen brachte eine feierliche Prozession Runa und die Männer zurück zu der Stelle, wo ihr Floß versteckt lag. Der Sturm hatte sich vollkommen gelegt, und das Meer lag wieder ruhig vor ihnen. Der Himmel war wolkenlos. Als sie den Strand erreichten, ging gerade die Sonne auf. Einen kurzen Augenblick lang waren die Insel und das Meer in das warme, goldene Licht des anbrechenden Morgens getaucht. Dann war die Sonne auch schon aufgegangen und brannte mit gewohnter Kraft vom Himmel.
Die Männer holten das Floß aus dem Dickicht hervor und hievten es hinunter zum Wasser.
Ein paar Frauen traten vor und überreichten Runas Begleitern geflochtene Körbchen, in die sie Beeren und Speisen gelegt hatten.
Die Männer bedankten sich und verstauten die
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