Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte abgelehnt.
Ihre Entscheidung hatte nichts mit der Person des Häuptlings zu tun gehabt, sondern allein mit der Wichtigkeit ihrer Aufgabe. Sie hätte auf ihrer Reise schon mehrere Dutzend Mal heiraten können, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte ihre Aufgabe zu erfüllen. Die Männer, in deren Begleitung sie über das Meer fuhr, respektierten ihre Einstellung, und sie behandelten sie wie eine Schwester oder Tochter. Auf der Insel des jungen Häuptlings hatten sie sich schützend vor Runa gestellt, wie eine Familie.
Als der junge Häuptling und seine Männer sie in der Morgendämmerung an der Weiterfahrt hatten hindern wollen, war Runa nichts anderes übriggeblieben, als die von Halvar erhaltene Gabe einzusetzen. Sie hatte ihren Willen dazu benutzt, die Angreifer erstarren zu lassen, bis sie und ihre Begleiter mit dem Floß außer Reichweite waren.
Nun waren sie schon mehrere Stunden von der Insel entfernt. Sie waren auf keinerlei Schwierigkeiten gestoßen, aber die Gesichter ihrer Begleiter blieben trotzdem finster.
»Warum seid ihr heute so still?«, wollte Runa wissen.
Einer der jüngeren Männer antwortete ihr.
»Die Inseln in dieser Gegend werden von mächtigen Schamanen beherrscht. Sie vermögen Kranke zu heilen, und sie besitzen auch die Gabe, Tiere zu ihren Gunsten zu beeinflussen und Kontrolle über das Wetter zu erlangen. Die Männer befürchten, dass der Häuptling die Fähigkeiten seines Schamanen einsetzen wird, um sich an dir zu rächen.«
Runa verstand. Der Gedanke an die Fähigkeiten der Schamanen ängstigte sie nicht. Aber sie wusste, dass Vorsicht geboten war.
Schweigend setzten sie ihre Fahrt fort.
Gegen Mittag fiel Runa eine dunkle Wolke am Horizont auf, die sich ihnen schnell näherte. Auch den wachsamen Augen der Männer war sie nicht entgangen.
»Ein Sturm!«, rief Runa und deutete zum Horizont.
»Der Schamane!«, antworteten die Männer.
»Können wir den Kurs ändern?«, fragte Runa.
Die Männer schüttelten den Kopf.
»Es ist schwer, der Rache eines Schamanen zu entkommen – außer man ist selbst einer.«
Runa musste über dieses Kompliment beinahe lächeln.
Die Wolke wurde größer und größer und kam immer schneller auf sie zu. Runa durfte keine Zeit verlieren. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich darauf, die Wolke aufzulösen.
Es gelang ihr nicht. Das Unwetter näherte sich zu schnell. Schon spürte Runa, wie ein starker Wind aufkam und die Wellen höher schlugen. Das Floß hob und senkte sich. Es begann zu regnen.
Runa wusste, sie konnte den Sturm nicht mehr aufhalten. Aber vielleicht konnte sie ihn in eine andere Richtung lenken!
Um sie herum ertönten die Rufe der Männer.
»Das wird ein Taifun!«, rief der eine.
»Wir müssen eine Insel anlaufen!«, schrie ein anderer.
Runa konnte den Männern nicht helfen. All ihre Kraft und Konzentration richtete sie auf den Versuch, den Sturm abzulenken.
Die Wellen schlugen höher und höher. Runa und die Männer waren im Nu völlig durchnässt. Der Himmel war dunkel und bedrohlich, und der Wind heulte wie ein Ungeheuer.
Runa konzentrierte sich noch immer. Es musste ihr einfach gelingen!
Die Minuten verstrichen, ohne dass sie es bemerkte.
Plötzlich stieß das Floß gegen etwas Festes. Runa blickte erschrocken auf. Einer der Männer hielt ihr seine starke Hand entgegen. Sie ergriff sie, und schon wurde sie mit einem Ruck vom Floß hinuntergezogen. Verwirrt schaute sie sich um, als sie Boden unter ihren Füßen spürte. Waren sie nicht mehr auf hoher See?
Durch den Regen, der jetzt beinahe waagerecht durch die Luft peitschte, und durch die Dunkelheit, die der Sturm mit sich gebracht hatte, beobachtete Runa, wie die Männer mit vereinten Kräften das Floß hoch auf den Strand zogen und es im immergrünen Dickicht versteckten. Dann kamen sie zu ihr zurück und bedeuteten ihr, ihnen zu folgen.
Sie fanden Schutz in dem dichten Buschwerk, das hinter dem Strand wuchs.
Stunden vergingen, bis sich der Sturm endlich legte. Erleichtert atmete Runa auf.
»Gut, dass ihr diese Insel angesteuert habt«, meinte sie. »Ihr seid wirklich ausgezeichnete Seefahrer.«
Die Männer wehrten ab.
»Du bist es gewesen, die den Sturm abgelenkt hat«, erwiderte einer von ihnen. »Ohne deine Hilfe wären wir verloren gewesen.«
»Es war der Schamane dieses verfluchten Häuptlings«, wetterte ein anderer.
»Aber jetzt stecken wir wieder in Schwierigkeiten«, erklärte ein junger Mann.
Runa sah ihn
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