Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
fragend an.
»Durch den Sturm mussten wir von unserer Route abweichen, und wir mussten diese Insel anlaufen. Normalerweise meiden wir sie, denn die Bewohner sind Fremden gegenüber feindlich gesinnt.«
»Das stimmt leider«, sagte ein anderer Mann bekräftigend. »Der Stamm, der auf dieser Insel lebt, opfert Menschen, um irgendwelche Rituale zu vollziehen. Und dafür ist ihnen jeder Fremde recht. Deshalb wird die Insel von allen Seefahrern gemieden.«
»Dann lasst uns von hier verschwinden, bevor sie uns entdecken«, entgegnete Runa.
»Das ist nicht so einfach. Die Bewohner haben schnelle Boote. Denen können wir mit unserem Floß niemals entwischen. Außerdem bläst der Wind noch immer in die falsche Richtung. Wenn wir jetzt losfahren, werden wir viele Wochen lang keine andere Insel finden.«
»Wie lange müssen wir warten?«, fragte Runa voller Sorge.
»Noch ein paar Stunden, denke ich.«
Die Krieger des Inselstammes überrumpelten sie, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Sie waren gefangen!
Es waren wild und gefährlich aussehende Männer mit furchterregender bunter Bemalung auf Gesicht und Körper. Sie trugen lange Speere bei sich, die sie nun auf Runa und ihre Begleiter gerichtet hatten. Mit lauten Schreien und finsteren Gesichtern zwangen sie ihre Gefangenen immer tiefer und tiefer hinein in das Innere der Insel.
Runa wehrte sich nicht, denn sie spürte, dass eine wichtige Begegnung vor ihr lag.
Bald darauf erreichten sie eine Lichtung im Wald. Hütten mit Grassoden als Dach standen nebeneinander aufgereiht. Irgendwo brannte ein Feuer. Frauen, Kinder und alte Leute liefen aufgeregt über die Lichtung. Runa konnte nicht erkennen, aus welchem Material ihre Kleidung gefertigt war, aber sie hegte die abscheuliche Vermutung, dass es sich um Fischhäute handelte.
Die Dorfbewohner brachen in Freudengeschrei aus, als sie die Krieger mit ihren Gefangenen entdeckten.
Zu ihrem Entsetzen entdeckte Runa die geschrumpften Überreste von Menschenköpfen. Sie steckten auf langen Holzspießen, die um einen bestimmten Platz in der Mitte des Dorfes aufgereiht waren.
Runas Nackenhaare sträubten sich. Das musste der Ritualplatz des Dorfes sein.
Die wilden Krieger packten Runas Begleiter und banden sie in der Nähe der Schrumpfköpfe an hohe Holzpfähle. Runa sah ihre entsetzten Gesichter. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie wusste, was man mit ihnen vorhatte.
Als die Krieger Runa festbinden wollten, hob sie stolz den Kopf und streckte abwehrend den Arm aus. Sie musste versuchen, ihre Begleiter zu retten.
Die Krieger lachten nur. Wieder versuchten sie, Runa zu packen, aber es gelang ihnen nicht. Runa hatte ein Energiefeld um sich herum aufgebaut, so dass niemand sie berühren konnte. Mit Handzeichen versuchte sie den Kriegern verständlich zu machen, dass sie mit dem Schamanen des Stammes sprechen wollte.
Die Krieger sahen sie verärgert an. Dann verschwand einer von ihnen in einer der Hütten.
Schon bald kam er mit einer Frau zurück. Sie war etwas kleiner als Runa und hatte langes glänzend schwarzes Haar. Ihre Haut war gebräunt, aber sie hatte nicht den gleichen bronzenen Ton wie die Haut von Runas Begleitern. Ihr stämmiger Oberkörper war nackt. Wie die anderen Dorfbewohner trug auch sie lediglich einen Rock aus getrockneten Fischhäuten.
Die Frau sah Runa mit finsterer Miene an. Dann rief sie einigen Männern irgendwelche Befehle zu. Sofort verschwanden diese in einer Hütte. Kurz darauf kamen sie wieder zurück und trugen eine Frau zwischen sich. Die Frau schien starke Schmerzen zu haben. Sie atmete flach, und ihr schweißnasses Gesicht war blass. Die Krieger legten die Frau vor der Schamanin auf den Boden.
Die Schamanin kniete sich so neben die Frau, dass Runa ihre Handgriffe verfolgen konnte. Dann stimmte sie einen seltsamen, haarsträubenden Gesang an. Dabei ließ sie ihre langen Hände langsam über den Körper der kranken Frau gleiten. Auf einmal schienen ihre Hände an einer Stelle über dem Körper der kranken Frau zu erstarren. Ihr Gesang wurde lauter, und sie legte ihre Hände direkt auf den Körper der Kranken.
Runa bemühte sich, unbeteiligt auszusehen, denn sie war sich sicher, dass die Schamanin versuchte, sie mit ihren Fähigkeiten zu beeindrucken oder gar einzuschüchtern. Schweigend beobachtete sie, wie die Hände der Schamanin in den Körper der Kranken eindrangen, als würden sie darin nach irgendetwas suchen. Das Eindringen der Hände schien der Kranken keine Schmerzen zu
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