Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
lassen.
Nervös ging Myra über den Parkplatz und betrat den schmalen Wanderweg, der, geschützt von den großen Zedern, durch die Wildnis des Parks führte. Der Halbschatten umhüllte sie wie ein Freund.
Myra spürte, dass Morris unmittelbar hinter ihr ging.
Schon bald erreichten sie die Stelle, an der Chad auf sie wartete. Myra verließ den Hauptweg und ging das kurze Stück bis zu der kleinen Lichtung hinüber. Dort trat sie zur Seite, um Morris Gelegenheit zu geben, Chad zu sehen.
Chad stand auf der anderen Seite der verborgenen Grube und wartete.
»Wo ist Emma?«, fragte er.
»Sie wartet in Morris’ Wagen. Mindestens ein anderer Mann ist bei ihr. Sie hat mir hallo gesagt.« Myras Stimme zitterte.
»Also gut«, meinte Chad und zog den falschen Talisman aus seiner Jackentasche hervor. »Hier ist er.« Er hielt ihn hoch, damit Morris ihn im Halbschatten der großen Zedern besser sehen konnte. »Bring Emma her.«
Morris betrachtete den Talisman aus der Ferne. Dann wies er über Handy seinen Partner im Wagen an: »Schick das Mädchen her.«
Stille legte sich über die kleine Lichtung.
Wenige Minuten später, die Myra wie eine Ewigkeit vorkamen, vernahmen sie leise Schritte auf dem weichen Waldboden. Sie sah sich um. Dann stockte ihr der Atem. Bilder tauchten vor ihren Augen auf, fremde Bilder. Die Welt um sie herum begann sich zu drehen, und sie geriet ins Schwanken.
»Mom!« Das war Emmas Stimme.
Das Mädchen machte ein paar schnelle Schritte auf seine Mutter zu, um sie aufzufangen.
»Runa«, flüsterte Myra und hielt sich an ihr fest.
Die Tochter wiederzusehen hatte Myra einen Schock versetzt. Sie hatte sich insgeheim schon oft gefragt, woher Emma ihr helles Erscheinungsbild und ihre nordischen Gesichtszüge hatte. Mit Chad als Vater hätten ihre Haut, ihre Haare und ihre Augen viel dunkler und ihre Züge irgendwie indianisch sein müssen.
Jetzt, im Augenblick der Not, konnte Myra dieses Rätsel lösen. Sie wusste nicht, woher sie das Wissen auf einmal nahm. Es war einfach da. Emma war Runas Ebenbild. Diese Tatsache und die Bilder, die vor ihren Augen aufgetaucht waren, reichten aus, um Myra zu versichern, wer Runa war. Niemand brauchte es ihr zu erklären. Es war so, als erkenne sie jemanden wieder, den sie vor langer Zeit einmal sehr gut gekannt hatte. Sofort fühlte sie eine innige Verbundenheit.
In diesem Augenblick wusste Myra von allem: von Runas Stärke und Glaubenskraft, ihrem Vertrauen, ihrer langen Reise, ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten. Sollte Emma auch nur einen Bruchteil dieser Eigenschaften von Runa geerbt haben, so wären ihre Fähigkeiten den des Talismans zumindest ebenbürtig.
Morris darf nichts davon erfahren!, schoss es Myra durch den Kopf. Sonst ist Emmas Schicksal besiegelt. Ich muss sie schützen, koste es, was es wolle! Sie drückte ihre Tochter fest an sich. »Du musst leben …«, flüsterte sie.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Myra, wie Meghali den Hauptweg entlanghuschte, einen entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Myra wandte den Kopf, um Meghali besser sehen zu können, doch irgendetwas stimmte nicht. Sie konnte Meghali nicht klar erkennen, ihre Umrisse waren verschwommen. Fast gleichzeitig überkam Myra ein seltsames Ziehen, als versuche irgendetwas, sie aus ihrem Körper herauszuziehen – fort von Emma und der Lichtung, fort von ihrem Selbst.
K APITEL 27
Landung
R una saß neben einem klaren, gurgelnden Bachlauf im sattgrünen Sommergras und flocht ihr langes Haar. Neben ihr grasten friedlich zwei Pferde. Die Sonne schien warm auf die unberührte Wildnis herab, und am Himmel tummelten sich ein paar kleine weiße Wolken. Es war ein wunderbarer Morgen.
Liebevoll beobachtete Runa die kastanienbraune Stute und ihr niedliches fuchsrotes Fohlen, die nun schon seit einiger Zeit ihre Begleiter waren, und lächelte. Ihr Herz war an diesem Morgen besonders leicht, denn sie spürte, dass sie ihrem Ziel sehr nahe war.
Wochen waren vergangen, seit sie das Floß mit seinen tüchtigen Seefahrern verlassen hatte. Die Fahrt über das große Wasser hatte viele Monde gedauert. Als sie die felsige Küste endlich erreicht hatten, wollte Runa es kaum glauben.
Dort, an dem einsamen kühlen Strand, hatte sie sich von ihren Begleitern verabschiedet. Sie wusste, dass sie von nun an auf sich allein gestellt sein würde, aber dieser Gedanke hatte ihr keine Angst gemacht. Im Gegenteil, sie fühlte sich beinahe so, als sei sie nach Hause zurückgekehrt. Denn auch an dieser
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