Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
dichtbewaldet, aber hier und da fanden sich sattgrüne Grasflächen. Es war wundervoll!
Runas Blick glitt den Abhang hinunter, denn sie hielt Ausschau nach einer Stelle, die sich für einen Abstieg eignete. Was sie entdeckte, ließ ihr den Atem stocken. Glatte schwarze Felswände fielen steil ab bis hinunter ins Tal. Die Sonne spiegelte sich darauf, und Runa konnte die Wärme fühlen, die von dem Gestein ausströmte.
Wie sollte sie an einer solchen Felswand hinunterklettern?
Dann entdeckte Runa etwas anderes, und das ließ ihr Herz schneller schlagen. Weit entfernt stiegen Rauchsäulen zum Himmel empor. Sie sah genauer hin, und schließlich konnte sie einige dunkle Punkte ausmachen.
Ein Dorf! Und nicht nur irgendein Dorf. Runas Herz wusste – es war das Dorf, in dem sie ihre Reise vollenden würde.
Leichten Herzens wandte sie sich um, weil sie ihren Freunden ein letztes Mal zuwinken wollte. Erschrocken entdeckte sie, dass die Stute und ihr Fohlen direkt hinter ihr standen.
Zärtlich strich sie dem Pferd über die Nase.
»Es ist gut, meine treue Gefährtin«, flüsterte sie. »Du hast genug getan. Du kannst mir nicht mehr helfen. Deine Herde wartet auf dich. Und ich, ich muss allein weitergehen.«
Die Stute schnaubte leise, rührte sich aber nicht.
Runa drehte sich entschlossen um und machte noch einen Schritt auf den glatten schwarzen Abhang zu.
Die Stute und ihr Fohlen folgten ihr.
»Nein!«, rief Runa entsetzt und breitete die Arme aus, um die Tiere aufzuhalten. »Ihr müsst stehen bleiben!«
Aber die Tiere schienen sie nicht zu hören. Sie kamen immer näher.
Aus Angst um ihre treuen Gefährten machte Runa einen unachtsamen Schritt nach hinten und verlor das Gleichgewicht.
Es gab keine Möglichkeit, sich an der glatten Felswand festzuhalten. Runa schlitterte den felsigen Abhang hinunter, immer schneller und schneller.
Das geflochtene Körbchen mit Kräutern wurde von ihrem Gürtel gerissen, und der raue Fels zerfetzte ihre Kleidung. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles, was ihr blieb, war, das geschehen zu lassen, was geschehen sollte.
Und es geschah – ein Wunder! Ihr geschundener Körper fand sich plötzlich im Sand neben dem Fluss wieder. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
Sie lebte!
Ungläubig blickte sie die schwarz glänzende Felswand empor und dankte den Geistwesen aus tiefstem Herzen. All ihre Glieder schmerzten. Runa tastete vorsichtig über ihren Körper. Nichts schien gebrochen. Die Haut an Armen und Beinen und ihrem Rücken war unversehrt. Ihre Kleidung hingegen war vollkommen zerrissen und hing in losen Fetzen um ihren Leib. Nur ihr Gürtel war heil geblieben und hielt noch immer das Flintmesser.
Eine schreckliche Ahnung überkam sie. Sie fühlte an ihrem Gürtel entlang. Nichts. Der Beutel mit dem Talisman war verschwunden!
Vorsichtig und mit rasendem Pulsschlag setzte Runa sich auf und suchte die nähere Umgebung ab.
Vergeblich.
Sie war auf einem schmalen Stück Land gelandet, das sich zwischen dem steilen Felsabhang und dem Fluss erstreckte. Der Fluss machte an dieser Stelle eine enge Biegung um die Felsen, so dass Runa an drei Seiten von Wasser umgeben war. Hinter ihr ragte die steile Felswand in die Höhe. Der Boden, auf dem sie saß, war mit feinem Sand bedeckt, und das Flussufer war üppig mit Schilf bewachsen. Eine einsame Zeder wuchs beinahe waagerecht aus dem Fels und bog sich über dem Fluss der Sonne entgegen. Eine mannshohe Felssäule stand verlassen im seichten Uferwasser.
Der breite Fluss strömte schnell an Runa vorbei und zeigte kein Mitleid mit ihr. Der Talisman aber war und blieb verschwunden.
Runa saß im Sand und überlegte fieberhaft. Was sollte sie ohne den Talisman tun? Warum war ihr alles genommen worden? Jetzt, wo sie sich ihrem Ziel so nahe fühlte, waren ihr nicht einmal mehr die Kleider an ihrem Körper geblieben.
Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer langen, langen Reise verließen Runa der Mut und das Vertrauen in den Beistand der Geister. Hilflos ließ sie sich in den warmen Sand sinken, und sie begann, bitterlich zu weinen. All die Anspannung der vergangenen Jahre, der Verlust ihrer Familie und ihrer Freunde, die Trennung von Erdis, die Gefahren, denen sie, ohne zu zögern, entgegengetreten war, das Alleinsein – all das brach aus ihr heraus.
Runa weinte, bis sie nicht mehr weinen konnte. Dann schlief sie erschöpft auf dem weichen Sand ein.
Irgendwann wurde sie unsanft von einem kleinen Streifenhörnchen geweckt, das über
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