Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
ihren schmerzenden Rücken hüpfte. Irritiert scheuchte sie das Tier weg. Aber es kam gleich darauf zurück und tanzte vor ihrem Gesicht auf und ab. Runa streckte ihre Hand aus, um das Tierchen zu vertreiben, aber ihr Arm war nicht lang genug. Schließlich erhob sie sich und kroch auf allen vieren hinter dem Streifenhörnchen her, das laut rufend in Richtung der krummen Zeder verschwand.
Plötzlich überkam Runa ein ungutes Gefühl, eine unbestimmte Dringlichkeit. Sie folgte dem Tier, so schnell sie konnte, und kletterte auf den Teil des Zedernstammes, der über das Wasser ragte. Vorsichtig spähte sie durch die Äste und das hohe Schilf auf den Fluss hinaus.
Sie konnte nichts entdecken.
Sie wollte sich schon zurück in den warmen Sand begeben, als ein leises Geräusch sie aufhorchen ließ. Sie wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und – erstarrte.
Hinter der Biegung des Flusses kamen drei große Kanus zum Vorschein. Jedes schien aus dem Stamm eines riesigen Baumes gefertigt zu sein. Die schlanken Kanus bewegten sich flink über das Wasser. Und in jedem saßen zehn kräftige Krieger!
Runa genügte ein Blick auf die angsteinflößende Bemalung auf den Gesichtern und Körpern der Krieger, um zu wissen, dass sie auf einem Raubzug waren. Die Männer hatten ihre Gesichter und nackten Oberkörper mit Fett eingerieben, was ihrer Haut einen düsteren, bedrohlichen Glanz verlieh. Quer über der Brust verlief ein breiter roter Streifen. Das lange schwarze Haar hatten sie am Scheitel kurz geschoren und ebenfalls mit roter Farbe bemalt. Mit kräftigen Armstößen bewegten sie ihre Kanus vorwärts.
Runa wusste sofort, welches Ziel die Männer hatten: das Dorf, dessen Rauch sie vom Berghang aus gesehen hatte. Es lag nur ein kurzes Stück weiter flussaufwärts!
Runas Herz begann, schneller zu schlagen. Es war ihr Dorf, das diese Krieger überfallen wollten! Das Dorf, in dem sie ihre Botschaft überbringen sollte. Sie war sich ganz sicher!
Wut erfasste sie und strömte durch ihren geschundenen Körper. Sollten die Krieger das Dorf zerstören, dann würde sie ihre Botschaft womöglich niemals überbringen können. Ihre Reise und alle Gefahren, die sie ausgestanden hatte, und alle Opfer, die sie erbracht hatte, würden vergebens sein. Das durfte sie nicht zulassen. Sie musste die Krieger aufhalten!
Runa sammelte all ihre Kraft. Sie dachte nicht mehr an den verlorengegangenen Talisman und an ihre schmerzenden Glieder. Es musste einen Weg geben, das Dorf zu schützen.
Kurzentschlossen riss sie die letzten Fetzen ihrer Kleidung vom Körper, griff nach ihrem Flintmesser und glitt ins Wasser. Dann schnitt sie ein dickes Schilfrohr ab und steckte ihr Messer zurück in den Gürtel.
Im Schilf versteckt, beobachtete sie die drei Kanus. Sie fuhren jetzt langsamer und hielten schließlich an. Die Krieger sprachen leise miteinander.
Runa erkannte ihre Chance. Sie steckte das Schilfrohr zu ihrem Flintmesser in den Gürtel und begann, zu der Stelle des Flusses hinüberzutauchen, wo die Kanus sich befanden. Als die Luft knapp wurde, zog sie das Schilfrohr hervor und benutzte es zum Atmen. Sie war schon seit ihrer Kindheit eine gute Schwimmerin, und die schnelle Strömung des Flusses ängstigte sie nicht.
Das Wasser war kühl. Welche Wohltat für Runas schmerzenden Körper! Hatte sie sich am Strand nur mit Mühe und unter Schmerzen bewegen können, so fühlte sie sich im Wasser wie neugeboren.
Es dauerte nicht lange, bis Runa die schmalen Boote erreicht hatte. Sie hatte sich keine Gedanken gemacht, wie sie die Krieger aufhalten wollte. Sie wusste nur, dass sie es irgendwie schaffen musste! Nach ihrem Sturz war sie so verzweifelt gewesen und nach dem Auftauchen der Krieger so entsetzt, dass sie ganz vergaß, Angst zu haben. Und sie hatte einen entscheidenden Vorteil, denn die Männer ahnten nicht, dass sie in ihrer Nähe war.
Runa sah den Umriss eines der Boote jetzt deutlich über sich. Die Verzweiflung verlieh ihr geradezu unheimliche Kräfte. Mit beiden Händen riss sie ein Büschel der algenartigen Pflanzen aus, die auf dem Grund des Flusses wuchsen, und rieb sie in ihr Haar. Dann schwamm sie mit kräftigen Zügen zur Oberfläche, schoss aus dem Wasser, ergriff den Rand des Kanus und zog so heftig daran, dass das Boot kippte.
Blitzschnell tauchte sie zum nächsten Kanu und brachte es zum Kentern. Wenige Augenblicke später folgte das dritte Kanu, und im Nu befanden sich alle Krieger im tiefen,
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