Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
unbekannten Küste wuchsen riesige, majestätische Bäume, genau wie in dem Wald, in dessen Nähe Runa aufgewachsen war. Die Bäume waren ihre Freunde. So lange hatte Runa sie vermisst, dass ihr Herz bei ihrem Anblick zu singen begann.
Entlang der fremden Küste zog sich eine hohe Gebirgskette. Statt diese zu überqueren, hatte Runa sich dazu entschlossen, einem breiten Fjord landeinwärts zu folgen. Sie hatte ihre Wanderung durch den beeindruckenden Wald mit den riesigen Bäumen sehr genossen. Alles hier erinnerte sie an ihre Heimat, sogar die Luft, in der sich das Salz des Meeres mit dem herben Duft des Waldes vermischte. Die wilden Tiere, wie die schwerfälligen Braunbären, die anmutigen Hirsche und die geschmeidigen Berglöwen, auf die sie unterwegs traf, wurden schnell ihre Freunde.
Runa war glücklich.
Nach einigen Tagen hatte sich der Wald gelichtet, und vor ihr lag eine weitläufige Graslandschaft, nach allen Seiten umgrenzt von hohen Gebirgsketten mit schroffen Gipfeln. Hier war Runa auf eine Herde wilder Pferde gestoßen.
Welch ein Anblick das gewesen war!
Ein wohliger Schauer war Runa über den Körper gelaufen, als die Tiere über die weite Ebene stürmten. Wie eine wogende lebendige Welle.
Runa fühlte sich zu einem der Tiere besonders hingezogen. Es war eine kastanienbraune Stute mit sanften großen Augen, die ein fuchsrotes Fohlen bei sich hatte, das nur ein paar Monate alt sein konnte.
Runa hatte mit der Stute gesprochen und ihr erklärt, dass sie eine Weggefährtin brauche. Sie hatte die Stute gebeten, sie ein Stück weit auf ihrer langen Reise zu begleiten und sie zu tragen. Und sie hatte ihr und ihrem Fohlen versprochen, dass sie nach Ende der Reise zu ihrer Herde zurückkehren dürften.
Die Stute hatte Runa lange angesehen und ihren Geruch eingesogen. Schließlich hatte sie den Kopf gebeugt und Runa leicht angestoßen. Sie waren zu einem Einverständnis gekommen.
In den darauffolgenden Wochen hatten Runa und die Stute die von flachen Hügeln durchzogene Hochebene, auf der die Herde zu Hause war, durchquert und waren einem breiten Fluss gen Süden gefolgt. Auf die grasbewachsene Ebene folgte ein schwierigeres Gelände, so dass Runa nicht mehr so schnell vorwärtskam. Der Fluss hatte sich seinen Weg durch eine bewaldete Gebirgskette gesucht, und an beiden Ufern wuchsen steile Berghänge gen Himmel. Runa und der Stute war nichts anderes übriggeblieben, als dem Flussbett durch den tiefen Canyon zu folgen.
Einige Tage später folgten sie einem engen, gewundenen Seitental, durch das sich ein Gebirgsbach schlängelte.
Am Ufer dieses Baches saß Runa, und ihr Herz war schwer geworden. Am Abend zuvor hatte sie die nähere Umgebung erkundet und festgestellt, dass sich der Bach über einen hohen Wasserfall in ein Tal ergoss, durch das sich ein anderer breiter Fluss zog. Sie würde es nicht schaffen, die Pferde den steilen Berghang hinunterzubringen. Sie würde ihr Ziel allein erreichen müssen.
Die Erkenntnis hatte Runa einen wehmütigen Stich ins Herz versetzt, und sie hatte sich dazu entschlossen, die letzten Stunden mit der Stute und ihrem Fohlen zu verbringen. So saß sie also lächelnd im hohen Gras und beobachtete das Tier, das sie mit großer Ausdauer und Umsicht auf seinem Rücken getragen hatte, mit liebevoller Dankbarkeit.
Als sich die Sonne ihrem höchsten Stand näherte, erhob Runa sich. Die Zeit der Trennung war gekommen. Sie schlang ihre schlanken Arme um den Hals des langbeinigen Fohlens.
»Ich danke dir, kleiner Freund. Möge sich ein langes und unbeschwertes Leben vor dir entfalten.« Sie küsste das Fohlen zärtlich.
Dann umarmte sie die treue Stute, die längst ein Teil von ihr geworden war, und presste ihr Gesicht in das weiche Fell des Tieres. Tränen traten ihr in die Augen, und sie wurde beinahe ärgerlich. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren von so vielem trennen müssen, von so vielen Menschen, die ihr lieb waren, Abschied nehmen müssen. Was würde sie noch durchstehen müssen, bevor ihre Reise endlich zu Ende war?
Dann fing sie sich wieder.
»Ich kann meinen Dank nicht in Worte fassen«, flüsterte sie. »Mögen die Geistwesen dich beschützen, wohin auch immer du gehst.«
Runa löste sich von der Stute und gab ihr einen Klaps.
»Lauf! Kehre zurück zu deiner Herde!«
Sie wandte sich ab und schritt entschlossen auf den Wasserfall zu.
Tief unter ihr breitete sich ein weites Tal aus, zu allen Seiten von hohen schroffen Bergen umringt. Es war meist
Weitere Kostenlose Bücher