Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
schnell dahinströmenden Wasser des Flusses. Entsetzen lag auf ihren Gesichtern, denn die Geschichten ihres Volkes erzählten von furchteinflößenden Wesen, die in den Tiefen des Flusses lebten und Boote und Menschen zu sich auf den Grund zogen. Ihre Bestürzung war so groß, dass sie vergaßen, ans rettende Ufer zu schwimmen.
Runa hingegen schwamm flink wie ein Otter zwischen den Kriegern umher, tauchte auf und wieder unter und stach mit ihrem Flintmesser auf jeden Krieger ein, der nach ihr greifen wollte.
Laute Schreckensschreie ließen sie innehalten. Sie blickte sich um und sah, dass die Strömung sie auf einen mächtigen Strudel zutrieb, der die ersten Männer schon gnadenlos mit sich in die Tiefe gerissen hatte!
Runa zögerte keinen Augenblick. Sie tauchte unter und schwamm, so schnell wie sie konnte, von den Männern und dem gefährlichen Strudel fort.
Es kostete sie all ihre Kraft, gegen die Strömung des Flusses anzuschwimmen und dem Schicksal der Krieger zu entkommen.
Runa schwamm auf das Ufer zu, fand jedoch keine Möglichkeit, an Land zu gehen. Glatte schwarze Felsen ragten steil am Ufer auf, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als am Ufer entlangzuschwimmen, zurück zu der Stelle, an der sie nach ihrem Sturz gelandet war.
Mit letzter Kraft erreichte sie das flache Ufer und zog ihren Körper aus dem Wasser. Erschöpft fiel sie in den weichen Sand und schloss die Augen.
Irgendwann erwachte sie wieder, weil sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Runas Herz schlug schneller, und ihre Hände wurden kalt. Sie setzte sich auf und sah sich aufmerksam um. Nichts. Sie blickte auf den Fluss hinaus, aber kein Krieger war zu sehen. Sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
Schließlich fiel Runas Blick auf den mannshohen Felsen, der nahe dem Ufer aus dem Wasser ragte. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. Dieser Felsen strahlte etwas Besonderes aus.
Runa wandte ihren Blick kurz ab. Als sie wieder hinschaute, war der Felsen verschwunden. Stattdessen stand dort im Wasser ein Wesen von außerordentlicher Schönheit!
Runa starrte es ehrfürchtig an. Nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Der Körper des Wesens war eindeutig der einer Frau, einer wohlgeformten, sehr weiblichen Frau. Ihr Gesicht jedoch war halb verdeckt von einer Art Tiermaske. Bei genauerem Hinsehen stellte Runa fest, dass es sich um den Schnabel und Kopf eines riesigen Vogels handelte, der den Kopf und die obere Gesichtshälfte der Frau bedeckte. Ein dichtes Kleid aus langen weißen Federn umhüllte das Wesen wie ein majestätischer Umhang, und Wasser tropfte von seinen Enden, als sei es eben erst dem Fluss entstiegen.
Runa fühlte den Blick der Weißen Vogelfrau auf sich ruhen, und eine heiße Welle strömte durch ihren Körper. Sie kniete nieder, senkte den Kopf und wartete ergeben auf das Urteil dieses machtvollen Wesens.
»Du hast sehr mutig und tapfer gehandelt, Tochter aus weiter Ferne«, sagte die Vogelfrau.
Runa blickte erstaunt auf, als sie die Worte der Vogelfrau vernahm. Sie musste blinzeln, und Tränen stiegen ihr in die Augen, denn ein grelles Licht ging von dem Wesen aus. Die Stimme jedoch war wie ein wunderbares Lied. Was Runa aber am meisten beeindruckte und ihr einen Stich ins Herz versetzte, war, dass die Weiße Vogelfrau in Runas Sprache gesprochen hatte.
Demut erfüllte sie, als ihr bewusst wurde, dass dieses beeindruckend schöne Wesen alle Sprachen der Welt beherrschte. Ihre Macht war grenzenlos.
»Dies ist für dich.« Die Vogelfrau holte etwas unter ihrem schimmernden weißen Federkleid hervor und hielt es Runa entgegen.
Runa stockte der Atem, als sie erkannte, worum es sich handelte.
Der Talisman!
Das grelle Licht, das von der Vogelfrau ausging, sprang nun auf den Talisman über, und einen Augenblick lang lag er, umhüllt von einem Kranz aus hellen Strahlen, in ihren Händen.
Runa streckte zögernd ihre Hand aus und nahm den Talisman vorsichtig entgegen. Ihre Hand schloss sich fest um den glatten Stein, und sie lächelte das machtvolle Wesen dankbar an.
Die Weiße Vogelfrau trat zu Runa und strich ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Du besitzt viele wertvolle Gaben, Tochter. Aber diese fehlen dir noch: grenzenlose Heilung aller Wesen und Schutz vor jeglichen Angreifern. Auch diese Gaben darfst du nun dein Eigen nennen.« Sie legte ihre Hand auf Runas Haupt. »Mögen Weisheit, Frieden und Liebe dich begleiten, solange du lebst.«
Die Weiße Vogelfrau wandte sich um und kehrte in
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