Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
sie auf, als sie ihre Arbeit beendet hatte. »Ich werde dich in unser Dorf bringen.«
Runa schritt vorsichtig hinter Ay’mut her, immer darauf bedacht, den Umhang nicht zu beschädigen. Den Talisman hielt sie fest in ihrer Hand.
Sie kletterte in das schmale Kanu, das Ay’mut schon vom Sand ins seichte Wasser des Ufers geschoben hatte. Sie wollte gerade zu einem der Paddel greifen, die auf dem Boden des Bootes lagen, doch Ay’mut wehrte ab.
»Ich mache das«, sagte sie entschieden.
Runa willigte ein und saß still am vorderen Ende des Kanus. Nur einmal drehte sie sich um.
»Was ist das für ein Vogel, aus dessen Federn dieser Umhang gefertigt ist?«
»Ein Rabe«, gab Ay’mut stolz zurück.
Es dauerte eine gute Stunde, bis sie das Dorf erreichten. Schon von weitem fielen Runa die vielen mannshohen Felssäulen auf, die entlang des Ufers im seichten Wasser standen. Als sie Ay’mut darauf ansprach, lächelte die alte Frau wissend.
»Du hast recht, Runa«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, »bei uns gibt es sehr viele dieser besonderen Felsen. Ich weiß, du kennst das Geheimnis des Felsens, in dessen Nähe ich dich getroffen habe.« Sie machte eine ausholende Armbewegung. »All diese Felsen teilen ein ähnliches Geheimnis. Sie sind ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Wir nennen sie Felsenmenschen . Es gibt viele alte Legenden darüber, wie sie in die Felsen hineingekommen sind. Wichtig für dich ist, zu wissen, dass es sich bei ihnen um mächtige Geistwesen, weise Medizinmänner oder -frauen, angesehene Anführer und andere Wesen handelt, die vor langer, langer Zeit einmal unter uns gelebt haben und unserem Stamm so sehr verbunden waren, dass sie ihm und allen Menschen, die einmal an diesem Ort zu Hause sein werden, auf ewige Zeiten mit Rat beistehen wollten. Dies tun sie – als Felsenmenschen . Alles, was wir tun müssen, ist, unser Herz für ihre Worte zu öffnen.«
Sie hatten das mit Gras bewachsene Ufer erreicht, wo schon viele Menschen gespannt auf die Rückkehr ihrer Medizinfrau warteten. Ay’mut zog das Kanu an Land und wurde sofort von einer Menschentraube umringt.
Runa verstand die Worte der Stammesmitglieder nicht. Sie sprachen einen anderen Dialekt als den, den Ay’mut ihr gegenüber benutzt hatte.
Unvermittelt brachte die alte Frau die Menge mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen und forderte Runa höflich auf, auszusteigen und ihr zu folgen.
Die Menge teilte sich voller Respekt und folgte den Frauen in gebührendem Abstand.
Runa sah sich vorsichtig um. Die Frauen und Männer trugen Röcke, die dem von Ay’mut und von ihr selbst sehr ähnlich waren. Das schwarze Haar der Frauen war lang, während das der Männer auf Schulterhöhe gekürzt war. Manche trugen einen Umhang, wieder andere hatten einen spitzen Hut auf dem Kopf. Beide Kleidungsstücke waren, wie die Röcke, aus Zedernrinde gefertigt.
Sie erreichten die Unterkünfte der Menschen, die ein Stück entfernt vom Ufer des Flusses aufgebaut waren. Runa schritt an kleineren Hütten aus Zedernrinde vorbei, die überall verstreut im Dorf standen. Aber es waren vor allem die beeindruckenden großen, langgestreckten Gebäude, deren massive Pfosten und dicken Planken aus Zedernholz gearbeitet waren, die Runas Aufmerksamkeit auf sich zogen. Die starken Pfosten waren über und über mit Schnitzereien bedeckt, die an einem der Gebäude sogar schwarz, weiß und rot bemalt waren. Runa blieb staunend vor einem der Pfosten stehen. Nie zuvor hatte sie solch großartige Häuser gesehen. Trotzdem kamen ihr die Gebäude seltsam bekannt vor … Vor langer Zeit hatte sie sie in dem Traum gesehen, der ihr die verschlüsselte Botschaft überbracht und sie auf ihre lange Reise geschickt hatte.
Ay’mut drehte sich suchend nach ihr um.
»Runa, hier entlang.«
Plötzlich verfinsterte sich das Gesicht der alten Frau. Zwei junge Männer waren von Runas hellhäutiger Schönheit angelockt worden. Sie sprangen um die junge Frau herum, versuchten, sie am Haar und an den Armen zu greifen und sie mit sich fortzuziehen.
Ay’mut wollte schon einschreiten, doch dann sah sie, dass Runas Blick sich fest auf die beiden Männer richtete. Sie stand ganz still.
»Fasst mich nicht an«, befahl sie, ohne ihre Stimme zu erheben.
Die Männer lachten und hörten nicht auf ihre Worte.
Runa bewegte sich nicht, sie sah die Angreifer nur eindringlich an.
Die Männer streckten ihre Hände nach ihr aus und packten sie gleichzeitig an den Armen. Sofort gefror das
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