Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
holen.«
»Ich habe euch eine Botschaft zu überbringen«, sagte Runa.
»Ich verstehe«, entgegnete Ay’mut. »Wir werden bald aufbrechen. Aber vorher gibt es noch etwas, das getan werden muss.« Sie hielt kurz inne. »Als Medizinfrau unseres Stammes wurde mir dies«, sie hielt den Korb hoch, den sie aus dem Kanu geholt hatte, »vor sehr langer Zeit von den Ältesten anvertraut, damit ich es aufbewahre. Es ist etwas sehr Kostbares, sehr Machtvolles, und es ist seit langer Zeit nicht mehr gebraucht worden. Schon meine Vorfahren, die längst zu den Ahnen gegangen sind, haben es verwahrt und auf die Person gewartet, die es einmal tragen würde. Niemand ist gekommen. Auch ich habe gewartet, und ich habe schon gedacht, ich werde es nicht erleben, die Person kennenzulernen, für die dies bestimmt ist.« Sie lächelte. »Mein Traum hat mich eines Besseren belehrt. Er hat mir nicht nur gezeigt, dass ich dich heute hier finden würde. Er hat mir auch verraten, dass das, was sich in diesem Korb befindet, dir gehören soll.«
Ay’mut stand auf, öffnete mit ihren runzligen Fingern den Korb und zog etwas so Wundervolles daraus hervor, dass es Runa die Sprache verschlug.
Es war ein weiter Umhang, kunstvoll gefertigt aus langen, breiten, glänzend schwarzen Federn.
»Ich habe gesehen, dass du die Weiße Rabenfrau getroffen hast«, sagte Ay’mut mit wissendem Blick. »Sie ist ein sehr machtvolles Wesen, das der Welt der Geister entstammt. Dieser Umhang«, sie deutete auf das schwarze Gewand in ihren Händen, »war einst der Umhang einer mächtigen Medizinfrau, die sich mit Liebe um ihr Volk gekümmert hat. Wir nennen sie die Schwarze Rabenfrau. Ihre Kräfte entstammen unserer Mutter Erde und ergänzen in vollkommener Harmonie die Kräfte der Weißen Rabenfrau. In ihrem Auftrag habe ich den schwarzen Rabenumhang aufbewahrt.« Sie hielt inne. »Lange Zeit hat er auf eine neue, würdige Besitzerin gewartet. Nun gehört er dir. Steh auf.«
Runa gehorchte. Voller Respekt blickte sie zu Ay’mut.
Die alte Frau legte den Umhang um Runas Schultern. Geschmeidig und federleicht umhüllte er ihren zierlichen Körper und fiel bis auf den Boden herab. Runa konnte die Kraft und die Energie, die von dem Umhang ausgingen, bis in die Fingerspitzen fühlen. Sie wollte etwas sagen, aber Ay’mut kam ihr zuvor.
»Sag nichts, mein Kind. Ich weiß, dass du eine würdige Besitzerin des Umhanges sein wirst … Ich habe die Krieger in den Kanus gesehen«, fügte sie mit leuchtenden Augen hinzu. »Und auch deinen Kampf gegen sie. Du bist sehr mutig.«
Runa senkte geehrt den Kopf.
Ay’mut holte einen aus Holz gefertigten Kamm aus dem Korb hervor.
»Auch dieser Kamm«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, »hat der Medizinfrau aus vergangenen Zeiten gehört. Bevor sie dem Ruf eines Kranken folgte, benutzte sie – so wird es überliefert – jedes Mal diesen Kamm, um ihr Haar zu glätten. Die Menschen unseres Volkes legen sehr viel Wert auf ihr Haar, aber für die Medizinfrau war er nicht nur dazu da, sich schön zu machen, sondern er war auch ein wichtiger Teil ihres spirituellen Reinigungsrituals, das sie vor jeder wichtigen Heilungszeremonie durchführte.« Die alte Frau machte eine Pause. »Nachdem sie ihr Haar mit dem Kamm geglättet hatte, steckte sie ihn am Hinterkopf fest, so dass sie ihn während der Zeremonie trug. In den Kamm sind die Umrisse eines Panthers geschnitzt.« Ay’mut zeigte Runa die feine Schnitzerei. »Durch die Schnitzerei war der Geist des Panthers mit all seiner Furchtlosigkeit bei ihr und half ihr, Krankheit und böse Geister abzuwehren.« Ay’mut machte wieder eine Pause. »Lass mich dein Haar mit diesem Kamm glätten und schmücken«, bat sie, »so dass du mit all deiner neuerworbenen Kraft in unser Dorf einziehen kannst.«
Runa nickte dankbar, und Ay’mut begann mit sanften Händen, das Haar der jungen Frau von den Algen zu befreien. Dann glättete sie es vorsichtig mit dem hölzernen Kamm der verstorbenen Medizinfrau. Während sie arbeitete, summte sie leise eine Melodie. Runas hellblondes Haar bildete einen solch wunderschönen Kontrast zu den glänzend schwarzen Federn des Umhanges, dass Ay’mut vor lauter Bewunderung einen Augenblick lang die Hände sinken ließ.
Runa hatte sich schon lange nicht mehr so umsorgt gefühlt. Ay’muts sanfte Striche mit dem Kamm entspannten sie ganz und gar und erinnerten sie daran, dass ihre lange, lange Reise schon bald zu Ende sein würde.
»Komm«, forderte Ay’mut
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