Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
zu können und von den Veränderungen, die der Wandel zur Sesshaftigkeit und Landwirtschaft mit sich brachte – wie dem Gebrauch von Metall –, verschont zu bleiben. Durch ihre lange Reise über Land und Meer bis hin zu dem fremden Kontinent und durch die Ankunft in dem kleinen Dorf am Ufer des mächtigen Flusses war ihr dieser Wunsch schließlich erfüllt worden. Te’culums Dorf war gegen äußere Einflüsse abgeschirmt, und die Menschen, die dort lebten, folgten den alten Lebensweisen. Sie waren Fischer, Sammler und Jäger und wussten nichts von Waffen oder Werkzeugen aus Metall. Es war ein Leben, wie Runa es liebte, und sie genoss es sehr.
Ganz besonders aber war ihr Herz erfüllt von Dankbarkeit für Te’culum. Denn ohne ihn oder ihre vielen gemeinsamen Kinder hätte ihrem Leben das Wichtigste gefehlt.
Runas Kinder waren nun erwachsen und hatten längst selbst Kinder und Enkelkinder. Und Te’culums Haar war seit langer Zeit nicht mehr schwarz, sondern silberweiß. Trotzdem hatte er seine Lebenskraft und seine schlanke, muskulöse Figur behalten. Runa lächelte im grauen Licht der Morgendämmerung. Ihr eigenes Haar war auch längst nicht mehr hellblond. Irgendwann hatte die Farbe von Mondlicht zu Licht gewechselt. Ihr Gesicht war inzwischen über und über mit Falten bedeckt, und ihr Körper ermüdete schnell. Aber wahre Schönheit leuchtete von innen, und die Bewohner des Dorfes sahen dieses innere Leuchten jedes Mal, wenn sie ihrer weisen Schamanin begegneten.
In letzter Zeit wurde Runa jedoch oft von Träumen heimgesucht. Es waren Träume von ihrem alten Begleiter, dem Talisman. An diesem Morgen war sie mit dem Gefühl aufgewacht, irgendetwas Wichtiges würde geschehen, und sie spürte eine unerklärliche Unruhe.
Nun, nachdem sie ihr Leben noch einmal in Gedanken durchschritten hatte, wusste sie, was zu tun war. Sie strich Te’culum liebevoll über die Schulter und weckte ihn vorsichtig.
»Ich lasse dich nicht gern allein, aber ich habe heute etwas Wichtiges im Wald zu tun«, sagte sie sanft.
Te’culum gähnte und streckte sich.
»Ich verstehe«, entgegnete er mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme, die in Runa noch immer Herzklopfen hervorrief. »Mach dir keine Gedanken, meine Liebste. Wir werden immer zusammen sein, du wirst sehen … Küss mich zum Abschied, und sei vorsichtig.«
Runa musste lächeln. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn zärtlich. Eine Zeitlang saß sie noch neben ihm, hielt seine Hand und betrachtete liebevoll sein vertrautes Gesicht mit den stolzen, edlen Zügen. Schließlich stand sie ruckartig auf, nahm ihren Medizinbeutel und trat hinaus in den klaren, frischen Morgen.
Tränen traten Runa in die Augen, denn sie wusste, sie hatte soeben das letzte Mal von der Liebe ihres Lebens Abschied genommen. Sie würde Te’culum nicht wiedersehen.
Nicht in dieser Welt.
Runa wanderte einige Tage lang durch den Wald landeinwärts. Es gab keinen Weg durch die Wildnis, und so folgte Runa einem inneren Kompass, der ihr Ziel genau kannte. Sie selbst wusste nicht, wohin die Geistwesen sie führen würden. Sie folgte einfach.
Runa legte ihre runzelige schlanke Hand auf den Talisman, um sich zu vergewissern, dass er noch an seinem Platz an ihrem Gürtel war. Daneben war ihr Medizinbeutel befestigt, und auf dem Rücken trug sie ein Bündel, das den Umhang aus Rabenfedern barg. Sonst hatte sie nichts mitgenommen.
Sonnenlicht fiel durch die dichten Zweige der immergrünen Bäume und ließ den Waldboden leuchten. Der würzige Duft der Zedern erfüllte die Luft und ließ Runas Herz leichter werden. Die mächtigen Zedern und üppigen Farne schenkten ihr tagsüber kühlen Schatten und gaben ihr Schutz während der Nacht. Sie waren wie alte Freunde. Runa hatte seit ihrer Ankunft im Dorf vor so vielen Jahren unzählige Tage und Nächte in den wilden Wäldern verbracht, die sich rings um das Dorf erstreckten. Doch obwohl sie noch immer bei guter Gesundheit war, wurde ihr Körper nun schneller müde, und es fiel ihr schwerer, über große Baumwurzeln und lose Felsbrocken zu steigen.
Runa war keinem Menschen begegnet, seit sie das Dorf verlassen hatte, aber sie sprach, wie sie es immer tat, leise mit den Tieren und Pflanzen im Wald. Sie fühlte sich nicht allein.
Am Morgen des neunten Tages teilte sich der Wald aus dicht gewachsenen majestätischen Zedern und gab den Blick auf ein steiles Felsmassiv frei, das sich aus der Wildnis erhob. Der raue sandfarbene Felsenhang war nur
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