Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
hustete, und Blut quoll zwischen ihren Lippen hervor.
»Mom!«, schrie Emma entsetzt auf.
»Emma«, flüsterte Myra. »Dein Arm …?«
Emma beugte sich über ihre Mutter. Tränen liefen ihr über die Wangen und benetzten Myras Haar.
»Nur ein Streifschuss, Mom«, antwortete das Mädchen mit bebender Stimme. »Mach dir keine Sorgen.«
Mit letzter Kraft hob Myra die Hand und legte sie auf Emmas verletzten Arm. Das Mädchen zuckte zusammen, hielt jedoch still. Ein seltsames Kribbeln zog durch ihren Arm.
Myra lächelte sie aufmunternd an. Dann sank ihre Hand zu Boden.
»Dad!« Emma sah ihren Vater sprachlos an. Von der Wunde war nichts mehr zu sehen. Nur ihr Shirt wies einen Riss auf.
»Meine liebste Myra«, flüsterte Chad mit tränenerstickter Stimme und strich liebevoll über ihr kleines vertrautes Gesicht. »Es ist nicht Emma, die besondere Kräfte besitzt. Du bist es.« Er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. »Ich habe es geahnt … Ich hätte es verhindern sollen …«
Die geliebten Stimmen von Chad und Emma schienen immer leiser zu werden. Myra bemühte sich, sie zu verstehen, aber es gelang ihr nicht.
Schließlich gab sie auf und schloss die Augen. Die Schmerzen kamen nicht mehr in Wellen, sie waren jetzt immer da. Das Atmen fiel ihr schwerer und schwerer, und ihr war, als sinke sie tiefer und tiefer in eine dunkle See.
»Mama, bleib bei uns!«, schrie Emma verzweifelt auf.
Myra spürte, wie jemand ihr die eigene Hand auf ihre Wunde legte. Einen Augenblick lang ließ der Schmerz nach, und sie konnte besser atmen. Aber sie wusste, dass es nur vorübergehend sein würde. Sie war zu schwach, um sich selbst heilen zu können.
»Es hat keinen Zweck, Emma«, verzagte Chad. »Sie ist zu schwach.«
Myra spürte, wie Chad ihre Hand ergriff und sie fest drückte. Emma tat das Gleiche mit der anderen Hand. Myra fühlte sich besser. Sie war nicht allein in der dunklen See.
Mit letzter Kraft öffnete sie ihre braungrünen Augen, aus denen der Glanz erloschen war, und suchte Chads geliebtes Gesicht.
»Ich liebe dich«, hauchte sie.
»Und ich liebe dich«, flüsterte Chad.
Myra schloss die Augen. Der Schmerz wich.
Stille und Frieden umgaben sie.
Sie lächelte.
K APITEL 32
Der Kreis schließt sich
R una öffnete die Augen. Die Stille des frühen Morgens und der herrliche Duft des Frühsommers strömten in die geräumige Hütte aus Zedernplanken, die nun seit vielen, vielen Jahren ihr Zuhause war. Das fahle Licht der Morgendämmerung fiel auf Te’culum, der friedlich neben ihr schlief.
Liebevoll betrachtete Runa sein Gesicht. Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie das Dorf zum ersten Mal betreten hatte! Bilder längst vergangener Tage zogen vor ihrem geistigen Auge vorbei. Am Ende ihrer langen Reise, nachdem sie das Dorf ihrer Geburt hatte zurücklassen müssen, ihre Familie und Freunde, insbesondere Erdis, hatte sie hier, in diesem kleinen Dorf in diesem fremden, aber wunderschönen Land, ein neues Zuhause, ein neues Leben gefunden – und Liebe.
Sie dachte an ihre Begegnung mit der Weißen Vogelfrau am Ufer des Flusses, als ihr nichts geblieben war außer ihrem Glauben und ihr Vertrauen in die Geister.
Dann schweiften ihre Gedanken zu Ay’mut, die sie damals mit dem Kanu am Fuß der schwarzen Felsen abgeholt und ihr den Umhang aus Rabenfedern überreicht hatte. Ay’mut … Schon so viele Jahre waren vergangen, seit die weise Medizinfrau die lange Reise zu den Ahnen angetreten hatte. Vorher aber hatte sie dafür gesorgt, dass Runa sich in der Dorfgemeinschaft wohl fühlte. Sie hatte ihr geholfen, die Sprache des Stammes zu erlernen und sich eine angesehene Stellung unter den Menschen des Dorfes zu verschaffen.
Runa selbst, still und demütig, wie es ihrem Wesen entsprach, hatte ihre Fähigkeiten eingesetzt, um den Menschen, mit denen sie lebte, zu helfen. Die Dorfbewohner schätzten ihre schamanistischen Fähigkeiten und ihr Vertrauen in die Geisterwesen. Runa hatte den Menschen des Dorfes verschiedene neue Zeremonien gezeigt, die ihnen halfen, gesund und glücklich zu bleiben und sich vor dunklen Mächten zu schützen. Und mit jedem Tag war der Respekt vor Runa gewachsen. Schließlich hatte sie den jungen Häuptling Te’culum geheiratet, der ihr durch seine Güte und seine Stärke schon am ersten Tag im Dorf aufgefallen war.
Noch vor ihrem Abschied aus dem Dorf ihrer Geburt auf der anderen Seite des großen Wassers hatte Runa sich gewünscht, die alten Sitten beibehalten
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