Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
als entferne sie sich weiter und weiter von ihrem Selbst, und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Sie musste es einfach geschehen lassen.
Alle Erinnerungen an die Gegenwart fielen von ihr ab, und sie fand sich in Runas Körper wieder.
K APITEL 6
Abschied
D unstschleier hingen über dem Moor, das gen Norden an das kleine Dorf angrenzte, und verliehen ihm ein gespenstisches Aussehen. Im fahlen Licht des Morgengrauens waren nur graue Schatten zu erhaschen, und wäre dies nicht Runas Zuhause, so wäre ihr unheimlich zumute gewesen, so früh am Morgen allein im Halbdunkel durch das Dorf zu wandern.
Die Feuer vor den Hütten waren längst heruntergebrannt, sie würden erst bei Sonnenaufgang wieder entfacht werden. Doch der Geruch von kaltem Rauch lag noch immer in der Luft. Runa rieb sich fröstelnd über die Schultern und fasste das lange weißblonde Haar mit einem Lederband im Nacken zusammen. Dann atmete sie tief durch. Sie liebte es, so früh unterwegs zu sein, wenn alle anderen noch schliefen. Sie schritt mit schlafwandlerischer Sicherheit durch das Moor, das sie seiner einfachen Vielfalt wegen liebte und in dem sie viel Zeit verbrachte.
Manchmal wanderte sie noch vor der Morgendämmerung durch das Moor zum Meer hinunter, breitete die Arme aus und begrüßte am Strand die ersten Sonnenstrahlen. Manchmal stahl sie sich in einer mondhellen Nacht davon, um im silbernen Licht des Mondes in den Wellen des Meeres zu baden. Runa fühlte, dass ihr die Strahlen der Sonne und des Mondes neue Energien schenkten, und sie war dankbar dafür. Sie wusste, dass die anderen Dorfbewohner über ihr Verhalten schmunzelten, aber sie hielten sie nicht von ihren Ausflügen ab.
Heute gab es jedoch einen anderen Grund, warum sie so früh aufgestanden war. Sie hatte einen Traum gehabt und war unruhig erwacht. Träume machten ihr keine Angst, auch wenn sie manchmal angsteinflößend waren, denn sie wusste, dass Träume dazu dienten, den Menschen zu helfen. Der Traum, den sie in dieser Nacht gehabt hatte, verwirrte sie aus einem anderen, viel schwerwiegenderen Grund: Sie verstand nicht, was er ihr mitzuteilen versuchte. Deshalb hatte sie gewartet, bis es langsam hell zu werden begann, und war nun unterwegs, um Erdis zu wecken und sie um Rat zu fragen.
Nachdem Runa die Hütte erreicht hatte, trat sie, ohne zu zögern, ein. Sie wusste, dass Erdis allein war, und sie wusste auch, dass ihre Freundin und Lehrerin sie erwarten würde. Erdis wusste immer, wann Runa ihre Hilfe brauchte. Man konnte sie mit solchen Dingen nicht überraschen!
Erdis saß auf ihrem Schlaflager, die langen leuchtend roten Haare zu einem dicken Zopf geflochten und ein Rentierfell um die Schultern geschlungen. Ihre grauen Augen blickten Runa erwartungsvoll entgegen.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie ruhig.
Runa sah sie inständig an.
»Ich hatte einen Traum …«, begann sie.
»Ich weiß«, fiel Erdis ihr ins Wort.
Runa war überrascht. Erdis fiel normalerweise niemandem ins Wort.
»Auch ich hatte einen Traum«, erklärte Erdis.
Runa riss die Augen auf.
»Was hat dein Traum dir gesagt?«
Erdis lächelte sanft über die Achtlosigkeit der Freundin. Träume waren etwas Persönliches. Man fragte andere Menschen nicht danach, sondern wartete geduldig, bis sie von sich aus darüber zu sprechen begannen.
»Mein Traum hat mir gesagt, dass du meinen Rat suchen wirst. Und auch, dass ich dir nicht weiterzuhelfen vermag. Aber ich weiß, wer es an meiner Stelle kann. Wir sollten keine Zeit verlieren.«
Wenig später näherten sich die beiden Frauen einer Hütte, die ein wenig abseits lag, fast schon im Moor. Hier wohnte Halvar, der Schamane des Dorfes. Halvar verfügte über große spirituelle Fähigkeiten, und er wurde von allen Dorfbewohnern mit Ehrfurcht und Respekt behandelt. Er wurde nicht nur gerufen, wenn jemand krank war oder wenn sein Geist gestört war und Erdis’ Kräuter nicht helfen konnten, sondern er wurde auch bei jeder wichtigen Entscheidung der Dorfältesten zu Rate gezogen.
Runa hatte Halvar schon oft bei Zeremonien beobachtet, aber in seiner Hütte aufgesucht hatte sie ihn noch nie.
Schon von weitem hatten die Frauen die große, kräftige Gestalt des Schamanen vor seiner Hütte an einem kleinen Feuer sitzen sehen. Als sie zu ihm traten, hob er den Kopf und blickte sie mit seinen freundlichen, weisen Augen an. Runa und Erdis warteten, bis er ihnen durch ein einladendes Kopfnicken zu verstehen gab, dass sie sich zu ihm setzen
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