Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
eine große Aufgabe vor dir. Es ist eine schwere Last, aber gleichzeitig auch ein großes Geschenk: Die Botschaft, die dir im Traum übermittelt wurde, enthält die Antwort auf die Bitten der Menschen, die in der Zeremonie in deinem Traum um Hilfe baten. Sie muss überbracht werden. Du bist von den Geistwesen dazu bestimmt worden, die Rolle der Botschafterin zu übernehmen. Wir dürfen dir keine Männer als Begleitschutz mitgeben.«
»Aber wohin soll ich sie überbringen? Und an wen ?«, stieß Runa entsetzt aus.
»Die Antwort auf diese Fragen kennt keiner«, erwiderte Halvar ruhig. »Du wirst wissen, für wen die Botschaft bestimmt ist, wenn du ihren rechtmäßigen Empfänger begegnest, denn nur er wird ihre fremdartigen Worte verstehen.«
»Das kann sehr weit sein …«, flüsterte Runa vor sich hin. Sie erinnerte sich an das seltsame Gefühl, das sie im Traum gehabt hatte. Das Gefühl, als sei sie weit, weit fort von zu Hause.
Halvar spürte ihre Zurückhaltung.
»Es ist sehr, sehr weit von hier, in einer anderen Welt. In einer Welt, die dort liegt, wo die Sonne aufgeht.«
Runa senkte den Blick. Sie wollte nicht, dass es so aussah, als zweifele sie an den Worten des großen Schamanen. Ihr war schon als Kind bewusst geworden, dass man seinen Worten besser Glauben schenkte. Es war vielmehr eine plötzliche Angst, die aus ihr gesprochen hatte. Sie wusste, dass seine Worte wahr waren und dass sie sich ihnen nicht entziehen konnte. Es waren die Auswirkungen dieser Worte, die ihr Innerstes zum Zittern brachten. Sie hatte ihre Familie, die Gemeinschaft und somit auch den Schutz des Dorfes nie zuvor verlassen. Was würde aus ihren Eltern werden und aus ihren Brüdern? Halvar konnte ihr nicht sagen, wohin die Botschaft sie führen würde. Wie sollte er das auch können? Es war eine höhere Macht am Werk, und es blieb Runa nichts andres übrig, als sich zu fügen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sowohl Halvar als auch Erdis sie ansahen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben und den Blick des Schamanen zu erwidern. Sie musste ihren Stolz bewahren.
Wieder ertönte Halvars leiser Gesang durch den anbrechenden Morgen, diesmal begleitet von dem Klang seiner Bärenklauenrassel. Der Schamane verfiel in einen Trancezustand. Während er sang, ritzte er mit seinem Gehstock eine Reihe von Zeichen in die Erde.
Als er geendet hatte, wirkte er erschöpft und bedeutete den Frauen, sie sollten ihn allein lassen. Bevor sie sich entfernten, wandte er sich noch einmal an Runa.
»Du musst auf deine Aufgabe vorbereitet werden, noch heute Nacht. Der Mond wird voll sein.«
Runa verbrachte den Tag in Abgeschiedenheit und Stille. Sie brachte es nicht übers Herz, ihren geliebten Eltern und ihren vier Brüdern etwas über ihren Traum oder die bevorstehende Aufgabe zu erzählen. Sie wollte ihnen, solange es ging, den Kummer ersparen. Denn wenn es für die jungen Frauen ihres Dorfes auch nicht unüblich war, sich mit dem Mann eines anderen Dorfes zu vermählen und mit ihm in die Fremde zu ziehen, so war es doch immer schwer für sie, die enge Gemeinschaft zu verlassen, die im Dorf herrschte. Die Familie und die Dorfgemeinschaft waren wichtiger als alles andere. Sicherheit und Geborgenheit in der Gemeinschaft, in der Familie waren der wichtigste Besitz, die wahre Identität eines jeden. Der Gedanke an den bevorstehenden Abschied ließ Runas Herz schwer werden. Gleichzeitig kämpfte sie mit einer unterschwelligen Angst: Was könnte ihr auf der Reise nicht alles zustoßen? Vor allem als Frau war es nicht sicher, allein zu reisen.
Unwohl war Runa auch bei dem Gedanken an die Zeremonie, die am Abend für sie abgehalten werden sollte. Sie war zu etwas Besonderem auserwählt worden, aber sie mochte es nicht gern, wenn sie im Mittelpunkt stand. Sie würde niemandem von der bevorstehenden Zeremonie erzählen, aber das Leben im Dorf brachte es mit sich, dass solche Dinge nie lange geheim blieben. Warum nur war dieser Traum ausgerechnet zu ihr gekommen?
Doch dann musste Runa unwillkürlich daran denken, wie schnell die althergebrachte Lebensweise verschwand. Das Dorf, in dem sie lebte, folgte zwar noch immer den alten Sitten – die Menschen waren Jäger und Sammler –, aber um sie herum veränderten sich die Dörfer. Immer mehr Familien wurden sesshaft und lebten als Bauern. Weiter im Süden und Südosten war der Wandel angeblich noch weiter fortgeschritten. Runa seufzte. Ihr Dorf hatte sich vor langer Zeit dazu entschlossen, mit der Natur in Einklang
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