Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
länger brauchen, es wird also kein Problem für mich sein, dich auf dem regulären Weg einzuholen, sobald ich Morris losgeworden bin. Solltest du jedoch vor mir ankommen und die Felssäulen vorfinden, dann tu, was du tun musst. Ich werde auf jeden Fall in der Nähe bleiben und auf deine Rückkehr warten.«
Myra schwieg. Chads Plan war riskant, aber sie wusste, dass sie es versuchen mussten.
»Wird Morris nicht erkennen können, dass plötzlich nur noch eine Person im Wagen sitzt?«, fragte sie schließlich skeptisch.
»Du hast recht«, meinte Chad. »Zieh deine Jacke aus und häng sie über deinen Sitz. Dann nimm deine Kappe ab und setz sie oben auf die Kopfstütze.«
Myra machte, was Chad vorgeschlagen hatte.
»Wie lange dauert es noch, bis wir die Stelle erreichen?«
»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Chad. Er blickte kurz zu ihr hinüber. »Bitte nimm dich in Acht. Ich wäre sehr traurig, wenn dir etwas zustoßen würde.«
»Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein.« Myra holte tief Luft und machte sich bereit für ihren schnellen Ausstieg.
Bald schon schlängelte sich der Highway in mehreren S-Kurven um die Berge, und Myras großer Augenblick war gekommen. Chad fuhr rechts ran und hielt abrupt an. Sie öffnete die Beifahrertür und sprang, geschmeidig wie eine Katze, hinaus in den Straßengraben. Schnell ließ sie sich hinter einen mit riesigem Farnkraut überwachsenen Baumstumpf gleiten.
Chad war sofort wieder losgefahren, und er fuhr schon wieder im normalen Tempo, als der schwarze Chrysler hinter zwei anderen Wagen um die Kurve gefahren kam. Chad beobachtete ihn im Rückspiegel und lächelte zufrieden. Der Chrysler war an Myras Versteck vorbeigefahren! Also schaltete Chad das Radio ein und stellte sich auf eine kleine Rundfahrt durch die Umgebung ein.
Myra war schon seit fast einer Stunde auf dem Weg bergauf zur Baumgrenze. Das Wetter war noch immer wunderbar, doch die Berglandschaft erschien ihr heute seltsam grau und fahl. Ihre Gedanken kreisten um die geheimnisvollen Felssäulen und die Rätsel, die dahinter verborgen lagen. Weder der strahlend blaue Himmel noch die putzigen Murmeltiere, die hin und wieder nahe beim steinigen Pfad auftauchten und ihre typischen Pfiffe ausstießen, konnten Myras Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Gedankenverloren wanderte sie an den kleinen bunten Wildblumen vorbei, die überall auf den kargen Hängen blühten, und auch das Bächlein, das sie über eine kleine Holzbrücke überquerte, konnte ihr heute kein Lächeln entlocken. Sie war nur auf ein Ziel fixiert: die Felssäulen!
In wenigen Minuten würde sie die Stelle erreicht haben. Wo Chad nur blieb? Myra blickte unruhig den schmalen Trampelpfad hinunter, konnte jedoch keine Spur von ihm entdecken.
Sie zwang sich, nicht an ihn zu denken.
Ihr Blick schweifte den Hang hinauf. Der Schnee, der noch immer auf der Bergspitze lag, blendete sie. Schützend hielt sie sich eine Hand über die Augen.
Und dann sah sie sie: Vor ihr lagen, abseits von allen Wegen, genau an der Stelle, wo sie sie beim ersten Mal erblickt hatte, die riesigen schwarzen und gleichzeitig im Licht der Sonne in den Farben des Regenbogens schimmernden Felssäulen!
Myra hielt den Atem an. Die Säulen waren tatsächlich ein zweites Mal für sie erschienen!
Etwas zog sie magisch an, sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie spürte, sie durfte keine Zeit verlieren, sie konnte nicht auf Chad warten.
Voller Respekt trat sie näher.
Dann plötzlich erinnerte sie sich, dass sie nicht aus eigener Kraft aus der Geisterwelt zurückkehren konnte. Sollte etwas Gefährliches oder gar Lebensbedrohliches geschehen, während sie sich auf der anderen Seite befand, so würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als zu beten, dass sie überlebte, bis es an der Zeit war zurückzukehren – wann auch immer das sein mochte.
Myras Herz pochte laut. Gleichzeitig verspürte sie das starke Gefühl von Dringlichkeit, das mittlerweile ihr gesamtes Wesen einzuvernehmen schien. Wieder entdeckte sie zwischen den Felssäulen dieses Flimmern, als würde die Luft an dieser Stelle vor Hitze flirren. Sie holte tief Luft. Sie konnte nicht erkennen, was auf der anderen Seite auf sie wartete, doch sie fasste all ihren Mut zusammen und schritt ein weiteres Mal zwischen den Felssäulen hindurch. Das seltsame Ziehen, das sie schon beim letzten Mal verspürt hatte, überkam sie aufs Neue. Und auch diesmal war es verbunden mit zeitgleichen Gefühlen von Unbehagen und Wohlbefinden. Ihr war,
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