Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
zu bleiben, und es hatte diesen Wandel bisher abgelehnt. Warum auch sollten sie ihr Leben ändern?
Wir brauchen keinen Wandel, keinen Fortschritt, um die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, dachte Runa.
Die neuen Lebensweisen folgten einem anderen Rhythmus. Es war der Sonnengott, der ihnen reiche Ernten brachte und den sie nun verehrten, nicht mehr die Mondgöttin, die sie mit der Erde verband und die ihnen eine gute Jagd schenkte.
Irgendwie bin ich froh, zu gehen, ging es Runa plötzlich durch den Kopf. Vielleicht gibt es irgendwo einen Ort, wo die alten Lebensweisen überleben werden – wenigstens für eine Weile.
»Es ist Zeit, Halvar aufzusuchen.« Erdis’ hochgewachsene, schlanke Gestalt erschien im Eingang von Runas Hütte. Ihre grauen Augen leuchteten vor Stolz. Es handelte sich zwar um Runas Zeremonie, aber es war üblich, dass derjenige, dem eine solche Zeremonie galt, einen Zeugen mitbrachte. Natürlich hatte Runa Erdis für diese wichtige Aufgabe auserkoren!
Wenig später waren die Frauen auf dem Weg zu dem Schamanen. Die ersten Sterne leuchteten am Himmel, und die Nacht war kühl und klar. Nur im Moor hingen hier und da Dunstschleier zwischen den niedrigen Bäumen und Büschen. Runa und Erdis würden Halvar nicht wie am Morgen vor seiner Hütte treffen, sondern auf einer kleinen Lichtung im Wald.
Es dauerte ein wenig, bis sie ihr Ziel erreichten. Der Wald lag abseits vom Dorf, und die Nacht war dunkel. Erst als der Mond in seiner vollen Pracht am Himmel erschien, kamen sie schneller voran. Jetzt, im silbernen Licht des Mondes, erspähten sie viele andere Gestalten im Wald. Runa hatte recht gehabt. Es hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitet, dass nach Einbruch der Dunkelheit eine Zeremonie für sie stattfinden würde. Und so hatten sich die Dorfbewohner eingefunden, um der Zeremonie in aller Stille beizuwohnen und Runa Rückhalt zu geben.
Schon von weitem vernahmen Runa und Erdis die Trommel des Schamanen. Und als sie sich der Lichtung näherten, auf der sie Halvar treffen sollten, konnten sie helle Flammen zwischen den Bäumen emporzüngeln sehen.
Langsam und respektvoll betraten die beiden jungen Frauen die Lichtung. Eigentlich war es nicht wirklich eine Lichtung, sondern eine Stelle im Wald, wo die Bäume einer kleinen Quelle Platz gemacht hatten. Um die Quelle herum war der Waldboden mit kurzem Gras und kleinen Wildblumen bewachsen, die im Schein des Feuers und des Mondes geheimnisvolle Schatten warfen und dem Ort eine zauberhafte Atmosphäre verliehen.
Die Frauen sprachen Halvar nicht an, sondern warteten ruhig auf ein Zeichen von ihm.
Runa musterte die große und kräftige Gestalt des Schamanen, und sie erkannte sofort, dass Halvar dieser Zeremonie größte Wichtigkeit beimaß. Er hatte seine ledernen Schuhe abgestreift und seine nackten Füße blau gefärbt. Seine Alltagskleidung hatte er durch ein eigens für Zeremonien bestimmtes Gewand ersetzt, das über und über mit kleinen Muscheln verziert war. Statt der üblichen aus Wurzelfasern geflochtenen Kappe schmückte in dieser Nacht ein Hirschgeweih Halvars Kopf, und vor seinem mit Ocker bemalten Gesicht hingen schmale Bänder mit Muscheln und Bernstein. Der Bernstein reflektierte den Schein des Feuers und leuchtete golden. Der Schamane sah feierlich aus, aber zugleich auch furchterregend.
Irgendwann nickte Halvar Runa und Erdis zu und bedeutete ihnen, zu ihm zu kommen. Erdis hielt sich, wie es die Zeremonie verlangte, im Hintergrund.
Wieder begann Halvar, rhythmisch zu trommeln. Das, so wusste Runa, führte bei dem Schamanen einen Bewusstseinszustand herbei, der es ihm ermöglichte, Verbindung mit den Geistern aufzunehmen.
Nach und nach traten die schattenhaften Gestalten der Dorfbewohner aus dem Dunkel des Waldes und reihten sich in einem großen Kreis um das lodernde Feuer und die drei Menschen in der Mitte der Lichtung.
Halvar begann zu tanzen und stimmte einen Gesang an, zuerst leise, dann lauter und lauter, so dass seine Stimme den Wald bis in den hintersten Winkel zu erfüllen schien.
Zwischen den Umstehenden herrschte Stille.
Es dauerte lange, bis Halvars Tanz beendet war und sein Gesang und die rhythmischen Schläge seiner Trommel verebbten. Stattdessen ertönte nun die wohlklingende Stimme des Schamanen klar und laut durch die Stille der Nacht.
Die Frauen lauschten Halvars Worten, die an die Geister gerichtet waren. Als Erstes pries er die Schönheit und die wundervollen Fähigkeiten der Mondgöttin und
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