Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
sollten.
Runa musterte Halvar, während sie sich schweigend niederließ. Er hätte gut und gern ihr Vater sein können, aber er war nicht alt. Erste silbergraue Strähnen zogen sich durch sein schulterlanges rotblondes Haar und den dichten Vollbart, und tiefe Falten fanden sich um seine Augen und auf seiner Stirn. Wie alle Männer des Dorfes war auch er mit einer Hose aus grobgewebtem Leinen und einem ebensolchen längeren Hemd bekleidet, das um die Hüfte mit einem gewebten Gürtel zusammengehalten wurde, an dem ein Messer aus Flint und einige kleinere Beutel aus Leder hingen. Um Halvars Hals lag ein ledernes Band, an dem ein Stück Bernstein hing. Quer über seinem Schoß lag ein geschnitzter Gehstock, den er immer bei sich trug, weil er ihn bei mehreren Zeremonien benötigte. Auf seinem Kopf saß eine einfache aus Wurzelfasern geflochtene Kappe, die an eine umgestülpte Schüssel erinnerte, und an den Füßen trug er wie Runa und Erdis genähte lederne Schuhe.
Runa wusste, dass Halvar allein lebte. Das war wie bei den Kräuterfrauen auch das Los der Schamanen. Die Hütte, die hinter ihm im Feuerschein sichtbar war, ähnelte den anderen Hütten des Dorfes. Halvar hatte seine jedoch mit verschiedenen Symbolen aus Ocker versehen. Ehrfürchtig wandte Runa ihren Blick von Halvar ab. Es war unhöflich, einen Menschen anzustarren.
Sie wartete geduldig, bis der Schamane sie ansprach und nach ihrem Anliegen fragte. Runa überreichte ihm daraufhin einen kleinen Beutel mit einer Gabe, die sie aus ihrer Hütte mitgenommen hatte. Ihre Bitte um Halvars Rat musste, den Sitten ihres Volkes nach, mit einem Geschenk unterbreitet werden. Es musste nichts Wertvolles sein, es war allein die Geste, die zählte. Halvar hatte durch seine Stellung im Dorf alles, was er zum Leben benötigte. Die Jäger gaben ihm Fleisch, die Frauen gaben ihm Beeren und Wurzeln und Kleidung. Jeder gab gern etwas an ihn weiter, denn alle waren dankbar, dass er bei ihnen war. Und Halvar verlangte nie mehr, als er wirklich zum Leben brauchte.
Daher nahm er Runas Geschenk entgegen, ohne es genauer anzusehen, und bat sie, ihr Anliegen vorzutragen. Schweigend lauschten er und Erdis Runas Worten.
»In der vergangenen Nacht hatte ich einen Traum«, begann sie leise und schloss die Augen, um sich auf alle Einzelheiten zu besinnen. »Ich sah ein riesiges Haus aus Holz, in dem sich viele Menschen zu einer wichtigen Zeremonie versammelt hatten. Sie baten die Ahnen um Beistand. Der Rauch ihrer Feuer schien sich wie nebelartige Arme durch Raum und Zeit hindurch nach mir auszustrecken und mich zu locken.« Runa versuchte, sich zurück in den Traum zu versetzen. »Dann wechselte das Bild, und ich hatte das Gefühl, als sei ich lange, sehr lange gereist. Ich sah mich in einem Wald stehen, mitten zwischen gewaltigen Bäumen. Aber die Bäume waren nicht wie unsere Bäume hier.« Sie hielt inne und schüttelte verwundert den Kopf. »Sie waren dunkel, und ihre geschwungenen Äste waren dicht behängt mit tiefgrünem Blattwerk. Der Boden war bedeckt von dickem Moos und wucherndem Farnkraut, und rechts und links von mir erhoben sich hohe, bewaldete Berge gen Himmel. Trotz der Berge lag deutlich der Geruch von Meer in der Luft.« Ihre Stimme verriet, wie erstaunt sie selbst darüber war. Dann fuhr sie fort: »Ich sah niemanden sonst, aber ich hörte, wie ich diese Worte sprach: Mahmele Leeyem . Ich habe diese Worte nie zuvor gehört, und ich weiß nicht, was sie bedeuten. Aber ich erwachte mit der Gewissheit, dass sie sehr, sehr wichtig sind.«
Nun war es Erdis, die mit staunenden Augen in die Runde blickte. Die Worte, die Runa in ihrem Traum gesprochen hatte, beinhalteten Laute, die sie nie zuvor vernommen hatte, und sie klangen fremdartig in ihren Ohren. Gleichzeitig erreichten sie ihr Herz auf scheinbar wunderbare Weise und verbreiteten ein wohliges Gefühl in ihrem Körper.
Halvar schwieg, weil er über Runas Worte nachdachte. Dann murmelte er etwas vor sich hin, holte die Kräuter hervor, die Runa ihm als Geschenk mitgebracht hatte, und warf einen Teil davon in die Flammen des Feuers. Er stimmte einen leisen Gesang an und warf noch mehrere Male kleine Mengen der Kräuter ins Feuer.
Nachdem sein Gesang verstummt war, starrte er eine Zeitlang in die lodernden Flammen und fächelte mit den Händen den aromatischen Duft, den die brennenden Kräuter hervorriefen, in sein Gesicht. Bedächtig sog er die Dämpfe ein. Dann hielt er plötzlich inne und sah Runa an.
»Du hast
Weitere Kostenlose Bücher