Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
für dich, Emma und mich, sondern für viele, sehr viele Menschen! Ich muss einfach herausfinden, was hier gespielt wird!«
»Hypnose ist keine schlechte Idee«, erwiderte Chad nachdenklich, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. Unsinn! Wer war dieser Morris überhaupt, dass er einfach auftauchen und das Leben seiner Familie auf den Kopf stellen konnte?
»Wo ist Emma eigentlich heute?«
»Sie ist nach der Schule mit zu ihrer Freundin gegangen.«
»Gut, dann ruf sie an und sag ihr, sie soll dortbleiben, bis wir sie abholen. Anschließend werde ich ein paar Leute anrufen, die mir den einen oder anderen Gefallen schulden. Mal sehen, ob wir herausfinden können, wer dieser Simon Morris wirklich ist. Das wäre ein erster Schritt zur Lösung des Problems.«
Myra rief Emma an und sagte ihr Bescheid. Dann setzte sie sich auf das kleine, gemütliche Sofa, das Chad für seine Klienten im Büro stehen hatte, und wartete, was bei Chads Telefonaten herauskommen würde.
Es dauerte eine Weile, bis Chad etwas erreichen konnte, weil die meisten Leute gar nicht mehr im Büro waren und selbst erst einmal Nachforschungen anstellen mussten.
Draußen wurde es langsam dämmrig, und schon bald war Myra auf der Couch eingenickt. Die Aufregung und das Warten hatten sie müde gemacht.
Chad saß an seinem Schreibtisch und beobachtete sie eine Zeitlang. Seine Gedanken schweiften zurück zu dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Fast zwanzig Jahre war das nun her, aber seine Gefühle für Myra waren noch genauso stark wie am ersten Tag. Vielleicht sogar stärker, denn er fühlte sich heute tiefer mit ihr verbunden als jemals zuvor in ihrer Beziehung. Er musste lächeln, als die gemeinsame Zeit mit Myra wie ein Film vor seinem inneren Auge ablief: all die Höhepunkte, aber auch die sorgenvollen Momente, die sie im Laufe der Jahre zusammen gemeistert hatten! Es waren eine ganze Reihe gewesen, und er war dankbar für jeden einzelnen.
Darauf bedacht, seine Frau nicht zu wecken, ging Chad zu dem Sofa hinüber, auf dem sie schlief, und betrachtete liebevoll ihr hübsches Gesicht. Sachte strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschah.
Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, denn er fühlte, dass sich in den letzten Stunden etwas in seiner geliebten Frau verändert hatte. Irgendetwas war in ihr Leben getreten und versuchte, sie von ihrem Weg abzubringen. Chad fühlte, dass dieses Etwas noch sehr vage war, aber deswegen war es nicht weniger bedrohlich. Und er wusste nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Ihm war, als wären seine Hände mit unsichtbaren Stricken festgebunden, die ihn daran hinderten, etwas zu unternehmen. Myra schien das Steuer übernommen zu haben. Sie war diejenige, die die Richtung vorgab und die Entscheidungen traf.
Chad wandte sich in stillem Gebet an seine Vorfahren und bat um Führung und Hilfe. Er fühlte sich nicht imstande, die Situation richtig einzuschätzen. Er musste seine Sorgen an die Ahnen weitergeben und auf ihre weisen Worte vertrauen.
Myra träumte. Sie sah eine alte Frau mit langen, sehr hellen Haaren, die durch einen riesigen Wald ging. Die Frau trug einen Rock aus Zedernbast und einen gewebten Umhang aus grober Wolle. Myra ordnete die Kleidung ohne Zögern der indianischen Kultur an der kanadischen Westküste zu.
Dann bemerkte sie, dass es sich bei den Bäumen um riesige Zedern handelte, die mit ihren geschwungenen Ästen einen natürlichen Baldachin bildeten, unter dem die alte Frau mit sicheren Schritten ging.
Der majestätische Anblick der uralten Zedern berührte etwas tief drinnen in Myras Herz. Es war wie eine Sehnsucht. Eine Sehnsucht nach etwas, das man vor langer Zeit einmal gekannt, dann aber verloren hatte. Und die Erinnerung daran hatte man schließlich aus unendlicher Traurigkeit über den Verlust aus dem eigenen Leben verbannt.
Atemlos beobachtete Myra, wie sich die Zedern lichteten und den Blick auf ein steiles Felsmassiv freigaben, das aus dem Wald gen Himmel ragte. Ein leichter Wind wehte zu der Frau hinüber, die am Rande des Waldes stehen geblieben war, und ließ ihre Haare tanzen. Langsam hob sie den Kopf. Ihr Blick schien auf eine bestimmte Stelle am Massiv gerichtet zu sein. Myra versuchte, ihrem Blick zu folgen, und schließlich glaubte sie, das gefunden zu haben, was die alte Frau betrachtete. Unweit der Spitze gab es einen dunklen Schatten auf den rauen sandfarbenen
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