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Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Der Ruf des weißen Raben (German Edition)

Titel: Der Ruf des weißen Raben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanna Seven Deers
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spürte, dass alles andere warten musste, bis ihre Aufgabe erfüllt war. Deshalb hatte er sie eigentlich nicht in den Arm nehmen wollen. Aber er wusste, dass sie in diesem Augenblick unbedingt seine Unterstützung brauchte. Also stellte er seine eigenen Gefühle zurück und gab Myra das, was sie am meisten benötigte, um durchzuhalten: Kraft und Ruhe.
    Myra schlief nicht lange, dazu war ihr Kopf noch zu voll mit den Ereignissen der vergangenen Tage. Sie öffnete verschlafen die Augen. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie sich befand, dann befreite sie sich aus Chads Umarmung und setzte sich wieder aufrecht hin. Sie fühlte sich plötzlich voll neuer Energie und Abenteuerlust.
    »Danke«, murmelte sie verlegen, da Chad im Jetzt ja eigentlich noch immer ein Fremder für sie war. Aber sie konnte das Gefühl der Vertrautheit, das sie und Chad in der Zukunft verband, nicht beiseiteschieben …
    Chad räusperte sich, um seine eigene Verlegenheit zu überspielen.
    »Ich habe nachgedacht. Wenn du in die Geisterwelt reist, dann bist du, wie ich es verstehe, nicht nur irgendein Beobachter . Du bist diese andere Person, du bist Runa oder dein älteres Ich.« Er machte eine Pause, weil er nach den richtigen Worten suchte. »Du denkst, du sagst, du tust Dinge als Runa oder als ältere Myra. Aber du löst auch Veränderung aus, weil du das Bewusstsein und das Wissen deines heutigen Ichs in dir trägst. Ich bin mir sicher, dass du Dinge und Geschehnisse in der Vergangenheit und in der Zukunft verändern könntest, dass du sie wahrscheinlich allein deshalb veränderst, weil deine Seele für eine Weile in einem anderen Körper weilt.«
    Myra schüttelte den Kopf.
    »Aber Chad, das ist ja gerade das Problem! Wenn ich in diese anderen Personen hinüberwechsle, bin ich diese Person. Wie soll ich es erklären? Ich habe zum Beispiel Runas Wissen, Runas Erinnerungen, Runas Fähigkeiten ab dem Augenblick, wo ich sie werde, aber die Verbindung zu meinem jetzigen Ich ist dann unterbrochen. Es ist, als würde ich, die Myra von heute, überhaupt nicht existieren, als gäbe es nur Runa. Ich kann die beiden Persönlichkeiten in der Geisterwelt nicht zusammenbringen.«
    »Das ist interessant«, sagte Chad nachdenklich. »Du kannst dich an dein jetziges Selbst nicht erinnern, wenn du in der Geisterwelt bist. Aber du kannst dich an alle Geschehnisse aus der Geisterwelt erinnern, wenn du von deinen Reisen zurückkehrst.«
    »Das stimmt. Und da ist noch etwas: Warum erinnere ich mich in der Zukunft nicht an all die Dinge, die uns im Jetzt passieren? Mein Besuch im Zeremonienhaus, das Jobangebot von Morris? Die Erinnerungen meines älteren Ichs an die Vergangenheit, an die Zeit, in der ich dich kennengelernt habe, sind vage und undeutlich. Was kann das bedeuten?«
    Chad schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln.
    »Ich habe gerade eben schon versucht, es dir zu erklären. Ich denke, die Zukunft eines jedes Menschen ist offen. Dein älteres Ich lebt auf einem der vielen für dich möglichen Zukunftswege. Deine Handlungen im Jetzt, deine Reisen in die Geisterwelt, deine Erfahrungen, deine Entscheidungen haben direkten Einfluss auf deine Zukunft. Deine Zukunft ändert sich daher ständig. Besuchst du auf deinen Reisen die Zukunft, so muss sich die Erinnerung deines älteren Ichs zwangsläufig an die Abläufe der Vergangenheit – also an unser Jetzt – anpassen. Deshalb ist die Erinnerung deines älteren Ichs an die Zeit in ihrer Vergangenheit – in der wir uns jetzt gerade befinden – undeutlich.«
    »Lass mich eine Weile darüber nachdenken«, sagte Myra nur.
    In diesem Augenblick erreichten sie den Parkplatz beim Squalath Provincial Park. Chad parkte den Wagen, und Myra stieg aus, um sich zu strecken. Die frühe Morgensonne schien auf sie herab und umhüllte sie mit angenehmer Wärme. Die Luft war erfüllt von dem würzigen Duft der Zedern und der salzigen Brise, die vom Meer heraufwehte. Der Pazifik war so nahe, dass Myra die blauen Wogen, deren Spitzen im Morgenlicht silbern glänzten, durch die großen Zedern und Felsbrocken hindurch erspähen konnte. Ein wohliger Schauer lief ihr über den Rücken, wie jedes Mal, wenn sie am Meer war. Das Meer war so unendlich weit, so wild und ungezähmt. Besonders hier, an der Nordwestküste, wo es an ein ebenso wildes, ungezähmtes Land stieß.
    Myra empfand das Land, die Natur in Squalath als besonders ursprünglich, und einen kurzen Augenblick lang flutete das großartige Gefühl von

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