Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Felsen. Aus der Ferne war nicht eindeutig zu erkennen, was sich hinter dem Schatten verborgen hielt, aber Myra war sich sicher, dass es sich um eine Höhle handelte!
Ein schrilles Klingeln drang plötzlich an Myras Ohr und riss sie aus dem Schlaf.
Nach dem Gebet war auch Chad eingenickt. Als plötzlich das Telefon läutete, fuhr er erschrocken hoch. Noch etwas benommen, nahm er das Gespräch entgegen.
Myra, inzwischen auch hellwach, lauschte von der Couch aus seinen Worten, konnte aus seinen kurzen Antworten jedoch nicht schließen, worum es ging. Endlich beendete Chad das Gespräch und wandte sich an sie.
»Das war Jake, einer meiner Klienten«, sagte Chad, und seine Stimme klang müde. »Simon Morris’ persönliche Daten sind geschützt. Nicht einmal Jake kommt da heran, und der hat Kontakte nach ganz oben. Nur so viel war zu erfahren: Simon Morris wurde 1984 in Toronto geboren und arbeitet zurzeit für eine Firma, die Dominor heißt. Dann habe ich hier noch seine Sozialversicherungsnummer. Mehr nicht. Jake hat nur gesagt, dass Dominor sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Projekten beschäftigt, die ausnahmslos von privater Hand finanziert werden. Das hilft uns leider nicht weiter.«
Myra und Chad sahen sich einen Augenblick lang schweigend an. Dann sagte Chad: »Bevor das Telefon klingelte, war ich kurz eingenickt und hatte diesen Ort vor Augen.«
Myra wurde hellhörig. »Welchen Ort?«
»Squalath. Wir sind nie zusammen dort gewesen. Aber ich kenne ihn schon von Kindheit an. Es ist ein alter Zeremonienort.«
Myra hielt die Luft an. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass der Ort, den Chad meinte, und die Höhle aus ihrem eigenen Traum miteinander in Verbindung standen. Warum sonst sollten sie zur selben Zeit davon geträumt haben? Für Myra waren es Puzzleteile, die Chad und sie zu einem Ganzen zusammenfügen mussten.
»Gibt es in Squalath einen Wald?«, fragte Myra aufgeregt.
Chad zögerte. »Einen Wald gibt es, ja. Er grenzt dort, in Squalath, direkt an den Pazifik.«
»Ich glaube, wir müssen dort hinfahren, Chad!«, rief Myra und erzählte ihm in wenigen Worten, was sie in ihrem Traum gesehen hatte.
»Das ist ziemlich vage, meinst du nicht?«
»Wir haben aber keine anderen Anhaltspunkte. Ich fühle, dass es dort eine Verbindung gibt, etwas, das uns weiterhelfen kann. Aber vorher müssen wir es schaffen, diesen Morris loszuwerden.«
Chad sah den entschlossenen Ausdruck in Myras Augen, und das Gefühl, dass er bei der ganzen Aktion nur eine Nebenrolle spielte, stellte sich sofort wieder bei ihm ein. Kopfschüttelnd sagte er: »Also gut, lass uns nach Squalath fahren.«
Sie griffen nach ihren Jacken und verließen das Büro. Auf der Treppe spürte Myra mit einem Mal wieder dieses seltsame Ziehen, und wieder war es ihr, als versuche jemand, sie aus ihrem Körper herauszuziehen.
Als sie die Eingangstür erreichten, waren die Felssäulen deutlich auf der anderen Seite zu erkennen. Myra konnte nicht anders. Sie musste zwischen ihnen hindurchgehen.
K APITEL 9
Eingeholt
M yra schaute sich vorsichtig um. Sie saß wieder in Chads Auto. Der Wagen stand am Straßenrand. Obwohl die Tage zu dieser Jahreszeit sehr lang waren, war es schon fast dunkel. Es musste bereits spät am Abend sein. Myra fasste sich an die Stirn und schüttelte benommen den Kopf. Wenn diese Wechsel nur nicht so plötzlich auftreten würden! Der ständige Wechsel in eine andere Identität machte ihr sehr zu schaffen, und mit jeder Reise schien ein Stück ihrer Seele an den Orten, die sie besuchte, zurückzubleiben.
Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie nicht allein im Wagen sein müsste. Sie war, bevor die Felssäulen vor ihr erschienen waren, mit Chad auf dem Weg nach Thunder Mountain gewesen, um ihr eigenes Auto vom Parkplatz abzuholen. Sie blickte zur Seite. Neben ihr, den Kopf an die Seitenscheibe des Wagens gelehnt, mit ihrem Wollpullover als Kissenersatz, saß Chad. Im ersten Augenblick nahm sie an, dass er schlief. Aber sie wusste es besser. Chad würde niemals schlafen, während sie sich in der Geisterwelt aufhielt. Er würde wachen und warten. Sie lächelte. Er war auch jetzt wach, sie war sich sicher. Sie konnte es im Dämmerlicht nur nicht erkennen. Er war wach und gab ihr Zeit, wieder zu sich selbst zu finden. Langsam streckte sie ihre Hand aus und berührte vorsichtig seinen Arm. Noch im selben Augenblick spürte sie, wie Chads Hand sich fest um ihre schloss.
»Hey«, flüsterte sie.
»Hey«, antwortete Chad, und der
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