Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Klang seiner Stimme verriet ihr nicht nur, dass er hellwach war, sondern auch, dass er sich um sie gesorgt hatte.
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schwieg. Sie war erschöpft.
Doch sofort raffte sie sich auf. Sie durfte sich jetzt nicht ausruhen. Und so erzählte sie Chad von den Erlebnissen ihres älteren Ichs.
»Morris verfolgt mein älteres Ich, und stell dir vor: Seine persönlichen Daten sind geschützt! Wir müssen uns von ihm fernhalten. Mit dem Kerl stimmt etwas nicht. Und ich meine nicht seine Manieren!«
»Das wird schwer werden, fürchte ich«, meinte Chad nachdenklich. »Aber ich denke, wir sollten auf jeden Fall gleich morgen früh nach Squalath fahren und uns umsehen. Immerhin sind wir auch in der Zukunft dorthin unterwegs. Vielleicht finden wir irgendeinen Hinweis darüber, worum es bei deinen Reisen in die Geisterwelt, den Talisman und Morris wirklich geht.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Myra sofort zu. »Mein Auto kann warten.«
Am nächsten Morgen machten sie sich also schon früh auf den Weg zum Squalath Provincial Park, der ungefähr eine Autostunde von Boulder Landing entfernt lag.
Myra hatte die Nacht wieder auf Chads Couch verbracht, aber sie hatte nicht besonders gut geschlafen. Ihr Körper und ihr Geist schienen sich überhaupt nicht erfrischt zu haben. Doch sie war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Die Geschehnisse waren zu wichtig, sie durfte nicht aufgeben! Sie musste endlich herausfinden, warum ihr all diese Ereignisse gezeigt wurden, und sie musste ihre Aufgabe erfüllen – was immer die auch sein mochte.
Also versuchte sie, ihre Müdigkeit zu überspielen, und bemühte sich, besonders fröhlich und redselig zu sein. Und für eine Weile gelang ihr dies auch. Sie unterhielt sich mit Chad über das Wetter und über die Landschaft, durch die sie fuhren. Es war auch gar nicht so schwer, alle anderen Dinge zu verdrängen. Schließlich war sie in Gesellschaft eines lieben Menschen, und es war ein herrlicher Morgen! Die Sonne war gerade aufgegangen und tauchte die Zedern und Fichten, die dicht an dicht zu beiden Seiten des kaum befahrenen Highways standen, in ein weiches, goldenes Licht. Durch das einen Spalt geöffnete Fenster strömte die frische Morgenluft herein, die erfüllt war von den Aromen von Wald, Meer und Frühsommer. Myra verstummte, als sie wieder einmal in den Anblick der unberührten Natur versank. Die dichtbewaldeten dunkelgrünen Berge; die rauen Felsen, die überall zwischen den Bäumen hervorblitzten; der kleine Fluss, der sich neben dem Highway entlangschlängelte und der schon bald ins Meer fließen würde. All diese Dinge waren Myra so lieb! Aber am meisten liebte sie wohl die Einsamkeit und die Freiheit, die die Natur ihr schenkte. Die Bergwelt, durch die sie nun fuhren, war menschenleer. Nur die wilden Tiere, mit denen Myra sich so sehr verbunden fühlte, lebten dort.
Chad hatte sich in den vergangenen Minuten seine eigenen Gedanken gemacht. Er spürte, dass Myras Kräfte nachließen, und er bewunderte ihre Willensstärke. Aber er wusste auch, dass sie Ruhe brauchte. Wortlos nahm er eine Hand vom Steuer, zog Myra zu sich heran und legte seinen Arm um sie.
Myra spürte die Stärke und die Kraft, die von Chad ausgingen, und entspannte sich. Sie hatte sich in der vergangenen Nacht so sehr gewünscht, dass er sie in den Arm nehmen, sie halten und alle Anstrengungen vergessen lassen würde. Sie wusste von ihrem älteren Ich, welche beruhigende und ausgleichende Wirkung Chad auf sie ausübte. Es war die Vertrautheit von fast zwanzig Jahren des Zusammenlebens, die sie im Jetzt so sehr vermisste und die sie in Chads Gegenwart immer schwerer zu unterdrücken vermochte. In der Zukunft war er ihr Ehemann. Sie teilten alles, hatten keine Geheimnisse voreinander, waren immer füreinander da. Sie schloss die Augen, nur einen kurzen Moment lang, um aus dieser Vertrautheit Kraft zu schöpfen. Dann war sie auch schon eingeschlafen.
Für Chad dagegen war diese Nähe etwas Neues. Myra hatte ihm erzählt, dass sie in der Zukunft, die sie auf ihren Reisen besucht hatte, verheiratet waren, dass sie sich auf dem Berg getroffen und nie mehr getrennt hatten. Und als er jetzt ihre schmalen Schultern in seinem Arm und ihr langes, weiches Haar an seinem Hals spürte, musste er sich zwingen, seine Gefühle im Zaum zu halten, damit sie ihn nicht von seiner Aufgabe ablenkten. Er war Myras Helfer und Begleiter auf ihrer Reise in die Geisterwelt, und er
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