Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Himmel sich immer mehr zuzog und starker Wind aufkam.
Als sie am frühen Nachmittag den Parkplatz von Thunder Mountain erreichten, war der Himmel mit grauen Wolken verhangen, und der Wind rollte in stürmischen Böen den Berghang hinunter. Eine dieser Böen stieß Myra, die gerade widerwillig aus dem warmen Auto stieg, beinahe um. Stirnrunzelnd blickte sie den Berg hinauf. Die Wege schienen wie leergefegt zu sein, genauso wie der Parkplatz. Wer wollte bei diesem Wetter denn schon eine lange Wanderung unternehmen!
Myra legte die Arme um den Körper und folgte Chad, der, mit Trinkflaschen und Sandwiches ausgerüstet, ohne zu zögern losging.
»Gut, dass wir Morris abschütteln konnten«, meinte Myra, als sie sich nach stundenlangem Aufstieg endlich dem Platz näherten, an dem die Felssäulen schon zweimal erschienen waren.
»Vergiss Morris«, mahnte Chad und blieb stehen. »Hör zu. Bei meinem Volk spielen Gebete eine wichtige Rolle. Man bittet um Gesundheit, um Erfolg bei der Jagd, um gutes Wetter, oder man drückt einfach nur seinen Dank aus. Dabei ist es wichtig, die Worte genau zu wählen und sie laut auszusprechen, damit die Geistwesen, die uns helfen, uns auch richtig und deutlich verstehen können. Solche Gebete sind sehr stark, das spürst du selbst, seit du in unsere Zeremonie hineingeplatzt bist. Deshalb muss man sich genau überlegen, wofür man beten will. Ich schlage vor, dass du diesmal ein solches Gebet sprichst, wenn du zwischen den Felssäulen hindurch in die Geisterwelt reist. Bitte um Hilfe und Kraft und Führung. Du wirst nicht enttäuscht werden! Ich werde meine Gebete von dieser Seite aus an den Großen Geist und an alle hilfreichen Geistwesen richten und hier auf dich warten.«
»Chad«, sagte Myra mit zweifelnder Stimme, »ich weiß nicht, wie so ein Gebet lauten soll. Ich habe so etwas noch nie gemacht. Was ist, wenn ich etwas Falsches sage?«
Chad lächelte. »Es ist nicht schwer, versuch es einfach. Lass die Worte aus deinem Herzen kommen, dann werden es die richtigen sein.«
Myra sah ihn zweifelnd an.
»Ungefähr so«, erklärte Chad nachsichtig, als er ihren Blick bemerkte. »Großer Geist, ich bitte dich, schenke mir Kraft und Weisheit. Lenke meine Schritte, und leite meine Worte. Ich danke dir für all deine Segnungen.«
Mit diesen Worten machte er sich wieder an den Aufstieg und blieb erst stehen, als Myra hinter ihm flüsterte: »Chad, ich kann die Felssäulen sehen!«
Sie waren mehrere Stunden lang gewandert und hatten beinahe die Baumgrenze erreicht.
Chad blickte sich suchend um. »Ich werde dort, bei den Felsbrocken, auf dich warten, Myra. Hier«, er gab ihr eine Wasserflasche und ein Sandwich, »stärke dich, bevor du dich auf den Weg machst.«
Myra trank ein paar Schlucke Wasser und biss ein paarmal von dem Sandwich ab. Sie verspürte weder Durst noch Hunger, wusste aber, dass sie bei Kräften bleiben musste. Wann sie wieder etwas zu essen bekommen würde, war ungewiss. Alles war ungewiss. Ihre Hand, die das Sandwich hielt, begann zu zittern – nicht vor Erschöpfung, sondern vor Aufregung.
Chad ergriff Myras Hand und blickte ihr tief in die Augen.
»Ich weiß, dass dir diese Reisen viel abverlangen. Ich würde dir gern alle Anstrengungen ersparen und an deiner Stelle gehen, aber ich kann es nicht. Du bist es, die gerufen worden ist.« Er zog sie in seine Arme und drückte sie zärtlich an sich. »Du wirst sehen, Myra, alles wird gutgehen. Sprich dein Gebet. Versuch, dich zu konzentrieren. Ich werde hier sein, wenn du zurückkommst, egal, wie lange es dauert. Du kannst dich auf mich verlassen.«
Myra erwiderte dankbar seinen Blick. Seine Worte machten ihr Mut und ließen ihre Abenteuerlust zurückkehren. Sie wollte mehr herausfinden! Vielleicht war es an ihr, etwas Wichtiges auf der Welt zu ändern, etwas, das niemand sonst schaffen konnte. Wer erhielt denn schon eine solche Chance?
Entschlossen wandte sie sich den Felssäulen zu. Dabei flüsterte sie immer und immer wieder das Gebet, das Chad ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
»Großer Geist, schenke mir Kraft und Weisheit. Lenke meine Schritte, und leite meine Worte. Ich danke dir für all deine Segnungen.«
Dann spürte sie wieder, wie sie von dem Flimmern, das sich zwischen den Felssäulen befand, umschlossen wurde.
K APITEL 10
Wandler
E s war schon fast Mittag. Wie an den Tagen zuvor schritt Runa auch jetzt ruhig und stetig neben Erdis in Richtung Osten. Ihr feingeschnittenes Gesicht war entspannt,
Weitere Kostenlose Bücher