Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
beinahe gleichgültig. Auf diese Weise blickte jede Frau ihres Volkes, wenn sie das Dorf verließ, und sei es auch für noch so kurze Zeit. Ein Fremder sollte sie nie einschätzen, sollte nie ihre wahren Gefühle ersehen können. Das war eine der wichtigsten Überlebensregeln.
Runa war jedoch keineswegs entspannt oder gleichgültig. Sie schöpfte die Stärke, die sie brauchte, um ihre Aufgabe zu erfüllen, aus ihrem tiefen Vertrauen in die Geistwesen. Sie hatte die Wichtigkeit ihrer Aufgabe erkannt. Und es war diese Wichtigkeit, die sie dazu trieb, noch wachsamer zu sein als sonst. Sie musste ihre Botschaft überbringen, sie musste den Talisman schützen, der ihr anvertraut worden war. Wachsamkeit war die wichtigste aller Überlebensregeln, und Runa war sich zu jeder Zeit darüber bewusst, was um sie herum vor sich ging.
Das Gleiche galt für Erdis. Wo immer sie hinkamen, begutachtete Erdis die Pflanzen, verglich sie im Stillen mit denen ihrer Heimat, erwog ihre heilenden Eigenschaften und sprach mit ihnen, um mehr über sie zu erfahren. Aber nicht einen Augenblick lang ließ ihre Wachsamkeit nach.
Runa und Erdis waren auf ihrer Wanderung nun so weit gekommen, dass sich die mächtigen nordischen Wälder lichteten und nach und nach in die großen Grassteppen übergingen. Runa bemerkte den Wechsel nicht nur an der sich langsam verändernden Landschaft, sondern auch an der Tierwelt. Es gab andere Vögel hier und andere Säugetiere, wie die mächtigen Wisente, von denen sie bisher nur aus Erzählungen gehört hatte. Die Steppe hatte ihren eigenen Reiz, aber Runa vermisste den behaglichen Schutz der uralten Bäume und des Moores und die salzige Luft des Meeres. Am meisten vermisste sie jedoch ihre Familie.
»Runa, schau diese wunderschöne Blume an!«, rief Erdis ihr zu und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Runa musste lächeln.
»Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen sollte«, sagte sie dankbar.
Erdis’ graue Augen sahen sie mitfühlend an.
»Heimweh?«
»Es ist nicht so stark, wie ich befürchtet hatte«, meinte Runa. »Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen«, fügte sie entschlossen hinzu, »das ist wichtiger als alles andere und viel wichtiger als Heimweh!«
Nun war es Erdis, die lächeln musste.
»Ich habe dir noch gar nicht gesagt, wie dankbar ich bin, dass du mich begleitest«, fuhr Runa fort.
»Das sagst du mir jeden Tag mindestens einmal, seit wir unterwegs sind«, entgegnete Erdis ruhig. »Und ich habe dir genauso oft gesagt, dass ich es als Ehre empfinde.«
Runas Blick richtete sich auf den Horizont, wo ein dunkler Punkt aufgetaucht war.
»Ich hoffe, dass für die Menschen in diesem Land das Wort Ehre auch einen großen Wert besitzt, denn es hängt allein von ihrer Ehre und von ihrem Vertrauen in die Worte der Geistwesen ab, wie sie uns aufnehmen und behandeln werden.«
Erdis folgte Runas Blick und atmete tief durch.
»Damit du deine Aufgabe erfüllen kannst, werden wir, ob wir wollen oder nicht, mit fremden Menschen zusammentreffen müssen.«
Auch Runa atmete tief durch und bereitete sich in Gedanken auf ein neuerliches Zusammentreffen mit einer Dorfgemeinschaft oder Sippe vor. Es war nicht von Belang, auf welche Art die Menschen in diesem Gebiet zusammenlebten, eines hatten alle gemein: Sie waren Fremde für Runa und Erdis.
Die Frauen wanderten erhobenen Hauptes weiter. Sie versuchten nicht, sich zu verstecken oder einem Zusammentreffen aus dem Weg zu gehen. Sie vertrauten auf die Segnungen der Geistwesen, auf den Schutz, mit dem Halvar sie in seiner Zeremonie mit Hilfe der Bärenschädel ausgestattet hatte, und auf die Kraft des Talismans.
Bisher hatten die Schamanen, denen sie begegnet waren, genau wie Halvar es prophezeit hatte, durch Visionen oder Träume von ihrem Kommen erfahren und sie mit größtem Respekt behandelt. Sie hatten sich um sie gekümmert, ihnen zu essen gegeben und auch dafür gesorgt, dass die beiden Frauen unbehelligt durch die Stammesgebiete reisen konnten. Aber Runa erinnerte sich auch sehr deutlich an Halvars Warnung, dass nicht alle auf die Stimmen der Geistwesen hören würden und dass manche vielleicht sogar versuchen würden, den Talisman an sich zu bringen, sollten sie von seiner Kraft erfahren.
Daher war Runa auf der Hut. Alles musste stimmen: das Begrüßungszeremoniell, die gesprochenen Worte. Schon ein einziges falsches Wort konnte ihnen jede Möglichkeit auf Hilfe rauben. Und nicht nur das, es konnte sie sogar ihr Leben kosten oder – im
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