Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
kann.«
Die Frauen nickten dankbar. Sie wussten, dass sie es mit einem mächtigen Schamanen zu tun hatten, dem höchster Respekt entgegengebracht werden musste. So redeten sie während der Weiterreise immer nur dann, wenn sie von Ragn angesprochen wurden. Die meiste Zeit schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Sie wussten jedoch, dass der alte Mann sie eingehend beobachtete, um sich ein Bild von ihnen zu machen. Das störte die beiden Frauen nicht, denn sie fühlten sich in Ragns Gegenwart wohl und beschützt, und sie waren dankbar, dass ihnen von den Geistern ein solch weiser Schamane geschickt worden war.
Es wurde schon dunkel, als Ragn einen Lagerplatz bestimmte, der ihnen, da er von Büschen umgeben war, sicheren Schutz gegen den kühlen Nachtwind bot. Aus einer kleinen Quelle wurden sie ausreichend mit Wasser versorgt. Runa und Erdis bereiteten eine leichte Mahlzeit aus den Beeren und Wurzeln zu, die sie unterwegs gesammelt hatten. Sie verrichteten ihre Arbeit schweigend, warfen aber ab und zu einen Blick auf Ragn, der ein wenig abseits mit dem Rücken zu ihnen im Gras saß und den Blick offenbar auf den Horizont gerichtet hatte.
Die Nacht war hereingebrochen, als Ragn zum Lagerplatz zurückkehrte und sich zu den Frauen setzte. Sie boten ihm an, ihre Mahlzeit mit ihm zu teilen, und er stimmte gern zu.
Nach dem Essen wandte sich Ragn schließlich an Runa.
»Die Geister haben zu mir gesprochen, und es ist wichtig, dass du mir genau zuhörst, mein Kind. Du befindest dich auf einer langen Reise. Viele Abenteuer und Gefahren warten auf dich.«
»Die Geister sind mir wohlgesonnen, Ragn, und ich habe einen Talisman bei mir, der mich beschützt«, antwortete Runa ruhig. Sie spürte, dass der alte Mann längst von dem Talisman wusste, und sie hatte daher keine Scheu, ihn zu erwähnen.
Ragn lächelte sie an.
»Dein Vertrauen und dein Glauben sind stark, und auch der Talisman, von dem du gesprochen hast. Aber es mag sein, dass sie allein nicht ausreichen.« Er machte eine Pause. »Ich bin alt, ich habe in meinem Leben viele wundersame Dinge gesehen …« Er blickte Runa forschend in die Augen. »Wie du am eigenen Leib erfahren hast, kann man sich seine Aufgaben im Leben nicht selbst aussuchen.«
Runa lächelte. Wie wahr diese Worte waren.
»Genauso wenig kann man selbst entscheiden, ob man ein Schamane wird. Es sind die Geister, die einen auserwählen. Und versucht man, sich dieser Wahl zu entziehen«, er machte wieder eine Pause, »so kann es einem das Leben kosten.«
Runa spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Über ihnen funkelten die Sterne in einem dunklen, klaren Nachthimmel, und Runa fühlte sich auf einmal klein und unbedeutend.
Ragn blickte sie noch immer an.
»Du bist von den Geistwesen nicht nur dazu aufgerufen worden, den Talisman zu schützen und deine Botschaft zu überbringen … Du bist ihrem Ruf gefolgt, du erträgst alle Erschwernisse, du behältst deinen Glauben … Du bist auf einer langen, langen Reise. Und diese Reise wird erst dann beendet sein, wenn du für deine nächste Aufgabe bereit bist. Diese Reise ist ein Weg des Lernens, ein Weg der Entwicklung für dich. Wenn der Kreis sich schließt, wird deine Botschaft verstanden werden. Bis dahin …« Seine Worte verloren sich im Nichts.
Runas Gedanken wirbelten durcheinander. Was meinte Ragn damit?
»Ist das der Grund dafür, warum Halvar mir den Talisman mit auf den Weg gegeben hat?«
»Ich weiß nicht, wer dieser Halvar ist«, entgegnete Ragn, »aber er versteht es, mit den Geistwesen zu sprechen. Er hat dir den Weg geebnet und für deinen Schutz gesorgt. Kein anderer Mensch hätte mehr tun können. Doch ich fürchte, du wirst mehr brauchen als das …«
Runa wollte schon etwas erwidern, als der alte Mann fortfuhr: »Du kannst nicht selbst danach suchen, denn du weißt nicht, welche Dinge es sind, die dir fehlen. Aber … du kannst sie von jemandem erhalten … Und dieses Erhalten hat bereits begonnen …«
Runa und Erdis sahen Ragn erwartungsvoll an. Doch der alte Mann gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern legte sich schweigend ins Gras nieder und drehte ihnen den Rücken zu. Kurz darauf war er eingeschlafen.
Runa erwachte aus einem unruhigen Schlaf, als Ragns Stimme neben ihr ertönte.
»Ich möchte dir etwas zeigen, Runa«, sagte er ohne Umschweife.
Runa erhob sich und sah den alten Mann respektvoll an.
Ragn stand vor ihr, die aufgehende Sonne im Rücken, das weiße Haar umspielte seine
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