Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
schlimmsten Falle – ihre Freiheit!
Am kargen Horizont war jetzt eine Gestalt zu erkennen. Runa und Erdis ließen sie nicht aus den Augen, gingen aber unbeirrt weiter. Die Gestalt schien allein zu sein. Diese Tatsache ließ die beiden Frauen noch aufmerksamer werden, denn es geschah nicht selten, dass ein Geistwesen Menschengestalt annahm, um den Charakter einer Person auf die Probe zu stellen. Bestand man diese nicht, so verlor man die Gunst der Geistwesen. Deshalb mussten Runa und Erdis erst einmal herausfinden, ob es sich bei der Gestalt tatsächlich um einen Menschen handelte oder vielleicht doch um ein Geistwesen.
Der Gedanke an Geistwesen beunruhigte Runa und Erdis nicht. Sie gehörten für sie zum Alltag. Wichtig war allein, dass man das Wesen mit den richtigen Worten und Gesten ansprach.
Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Runa und Erdis warfen sich überraschte Blicke zu, gingen jedoch unbeirrt weiter. Es dauerte eine Weile, bis sie zu der kleinen Erhebung kamen, wo sie die Gestalt hatten stehen sehen. Nun war der Platz leer, und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass jemand vor kurzer Zeit dort gewesen war.
»Ich war sicher, dass ich vorher jemanden an dieser Stelle gesehen habe«, meinte Runa nachdenklich.
»Ich mir auch«, stimmte Erdis zu. »Aber es mag genauso gut eine Täuschung gewesen sein. Das Licht der Sonne kann dem Auge leicht einen Streich spielen.«
»Vielleicht handelt es sich um ein Geistwesen, das uns beobachtet. Ich denke, wir sollten an dieser Stelle eine kleine Gabe niederlegen und die Geistwesen um eine sichere Reise bitten.«
Ohne zu zögern, nahmen beide Frauen die aus Zweigen geflochtenen Körbe von ihrem Rücken. Runa holte eine wunderschöne bläuliche Feder hervor, die sie vor kurzem gefunden hatte, und Erdis einige Wildblumen, die sie am Morgen gesammelt hatte.
Aus den Büschen neben ihnen erklang in diesem Augenblick die laute Stimme eines Vogels, begleitet von einem Rascheln. Die Frauen sahen genauer hin. Ein kleiner Vogel mit bläulichem Federkleid hüpfte aus den Büschen hervor und blickte sie an. Runa griff noch einmal in ihren Korb, holte ein paar Samen hervor und legte sie vor dem Vogel in das Steppengras.
Das Tier pickte die Samen auf. Dann flog es auf, ließ sich aber ein Stück weiter entfernt wieder im Gras nieder. Die beiden Frauen bewegten sich nicht. Plötzlich veränderte sich der Vogel. Er schien durchsichtig zu werden. Gleichzeitig sahen sie die Umrisse eines alten Mannes. Schließlich war der Vogel verschwunden, und nur der alte Mann stand noch vor ihnen.
Runa und Erdis versuchten, ihr Erstaunen zu verbergen. Sie hatten von Wesen, die ihre Gestalt willkürlich ändern konnten, bisher nur in Erzählungen gehört. Die wirkliche Begegnung mit einem solchen Wesen erfüllte sie mit Ehrfurcht und Respekt. Schweigend warteten sie darauf, dass der Mann sie ansprach.
Runa bemühte sich, den Fremden nicht anzustarren, denn das wäre sehr unhöflich gewesen. Trotzdem hatte sie längst alle Einzelheiten seiner Gestalt erfasst. Der Mann war nicht viel größer als sie selbst. Er hatte weißes Haar, das ihm offen bis auf die Schultern fiel, und ein mit tiefen Falten durchzogenes Gesicht. Er war hager und schien sehr alt zu sein. Besonders auffällig war seine Kleidung. Sie ähnelte in vielerlei Hinsicht der Kleidung der Männer ihres Heimatdorfes, unterschied sich jedoch im Material. Statt gewebter Fasern war die Kleidung des alten Mannes ausschließlich aus schwarz gegerbtem Leder gefertigt, und ein Kranz aus blauen Vogelfedern schmückte sein Hemd. Als er sich schließlich an sie wandte, stellte Runa erstaunt fest, dass auch seine Sprache der ihres Volkes sehr ähnlich war, so dass sie nur wenige Worte nicht verstand.
»Ich bin Ragn«, sagte der alte Mann und hob grüßend seine Hand. Ein kleines Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht, während er die beiden Frauen musterte. »Ich habe auf euch gewartet. Eure Ankunft ist mir im Traum angekündigt worden. Ich werde euch durch das Gebiet meines Stammes geleiten. Ich weiß, welche Aufgabe auf deinen Schultern lastet«, fuhr er, an Runa gewandt, fort. »Ihr habt nichts zu befürchten, während ihr in meinem Stammesgebiet weilt.«
»Wir sind dir sehr dankbar für deine Hilfe, Ragn.«
Ragn lächelte wieder und fügte ernst hinzu: »Mein Dorf liegt drei Tagesmärsche von hier entfernt. Dort könnt ihr euch ausruhen. Danach sind es noch einmal fünf Tage«, er hielt seine Hand hoch, »die ich euch begleiten
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