Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
geschäftig in den Bäumen herumkletterten. Irgendwo schrie ein Adler, aber Myra konnte ihn nicht erspähen. Fast hätte sie vergessen, dass der Grund für ihre Fahrt nach Squalath ein sehr ernster war. Sie blickte zu Chad hinüber, der schweigend neben ihr saß und genauso wie sie die Natur beobachtete. Liebevoll betrachtete sie sein Gesicht, lächelte wehmütig über die feinen Falten an seinen Augenwinkeln und die silbergrauen Strähnen in seinem schwarzen Haar. Sie wusste, dass er besorgt war, aber auch verärgert und dass er angespannt darauf wartete, was die nächsten Stunden bringen würden.
»Bist du sicher, dass dies der Ort ist?«, fragte sie und strich sich das kinnlange Haar, das der Wind durcheinanderwirbelte, aus dem Gesicht.
Chad nickte. »Dies ist Squalath, der Ort, den Heather mir vor langer Zeit gezeigt hat, als ich noch ein kleiner Junge war. Vor vielen Jahren wurden Squalath und das umliegende Gelände zu einem Park erklärt, dem Squalath Provincial Park. Ursprünglich hat hier ein Dorf gestanden, errichtet neben einem unserer heiligen Zeremonienplätze.«
»Lass uns eine Weile spazieren gehen«, meinte Myra nachdenklich.
»Wir können dem Trampelpfad folgen und sehen, was wir ausfindig machen können«, schlug Chad vor.
Myra war froh, endlich aus dem Auto aussteigen und sich die Beine vertreten zu können. Die Luft war kühl und frisch, und eine leichte Brise wehte vom Meer her zu ihnen herauf. Sie ergriff Chads ausgestreckte Hand und lächelte. Schon lange hatten sie einen Ausflug wie diesen geplant. Allein, ohne Emma. Ihr Wunsch hatte sich erfüllt, wenn auch unter vollkommen anderen Umständen.
Als sie dem Pfad ein Stück weit gefolgt waren, drang das beständige Rauschen der ruhigen See zu ihnen herauf. Mit jedem Schritt wurde es lauter. Noch konnten sie das Meer nicht sehen. Große Zedern und Fichten versperrten ihnen die Sicht. Aber sie spürten deutlich die gewaltige Energie und die magische Anziehungskraft, die von ihm ausgingen.
Schließlich erreichten sie einen Platz, wo die Bäume nicht mehr so dicht standen, und vor ihnen öffnete sich der Blick auf die ungebändigten Wassermassen des Nordpazifiks.
Einen Augenblick lang standen Myra und Chad still da und ließen den Anblick in ihr Herz eindringen. Über ihnen schrien die Möwen und Adler, unter ihren Füßen spürten sie die schroffen Felsen der steilen Klippen, und vor ihnen lag, ausgestreckt bis zum Horizont, der Pazifische Ozean.
»Und? Was sagst du?«, fragte Chad nach langem Schweigen und machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm.
»Es ist wunderschön hier … Aber es ist nicht der Ort, den ich gesehen habe.«
»Myra, du hast geträumt. Manchmal wollen unsere Träume uns nur den Weg weisen. Es muss nicht unbedingt so sein, dass der Ort in Wirklichkeit ganz genauso aussieht …«
Myra sah ihn zweifelnd an.
»Vielleicht waren unsere Schlussfolgerungen falsch«, fuhr er fort. »Vielleicht müssen wir uns eingestehen, dass der Ort, den ich in meinem kurzen Traum gesehen habe, nichts mit unserem Problem zu tun hat. Ich meine, wir wissen noch nicht einmal, worum es eigentlich geht.«
»Ich spüre, dass es mit dem Talisman aus der Legende zu tun hat«, sagte Myra mit fester Stimme.
Chad starrte sie an.
»Du willst den Talisman suchen? Du weißt nicht einmal, wie er wirklich aussieht. Heathers Beschreibungen waren vielleicht unvollständig oder …«
Myra fiel ihm ins Wort.
»Ich glaube, ich würde den Talisman erkennen, wenn ich ihn sähe.« Sie spürte, dass eine Gänsehaut langsam über ihren Körper kroch. Etwas stimmte nicht. »Er ist nicht hier … Ich fühle es.«
Chad wurde ungeduldig.
»Und wo ist er deiner Meinung nach?«
Aber alles, was Myra sagte, war: »Nicht hier, nicht hier.« Sie hob beide Hände an den Kopf. »Mein Kopf fühlt sich merkwürdig an.« Ihr Blick schweifte umher.
»Kopfschmerzen, mein Schatz?«, fragte Chad zärtlich.
»Nein … ja … Ich weiß es nicht. Es ist, als würde irgendetwas versuchen, in meinen Kopf einzudringen … Chad, es tut mir leid, aber dies hier ist im Moment kein guter Ort für mich. Können wir zum Auto zurückgehen?«
»Natürlich.«
Auf dem Rückweg sah Chad Myra immer wieder besorgt an. Gestern war sein Leben noch in Ordnung gewesen. Heute schien es ihm aus den Händen zu gleiten, und er hatte noch immer das ungute Gefühl, dass er nichts dagegen tun konnte. Wieder und wieder sandte er stille Gebete zu den Geistern seiner Ahnen und bat um Hilfe und
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