Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
tatsächlich durch die Zeiten reisen kann?«
Chad überlegte eine Weile.
»Aber welche Zeit ist die richtige, Myra? Niemand weiß, wo der Talisman sich befindet, sollte es ihn denn wirklich geben. Mir scheint, die Einzigen, die er dazu befragen könnte, sind die Ahnen in der Geisterwelt. Aber wenn er die Macht hätte, das zu tun, dann würde er den Talisman wohl kaum brauchen. Dann wäre er schon jetzt sehr mächtig, mächtiger als jeder andere Mensch, den wir kennen.«
Myra dachte fieberhaft darüber nach.
»Wir müssen ihn aufhalten, Chad! Wir müssen ihn irgendwie dazu bringen, in unserer Zeit zu bleiben. Er darf mein zwanzig Jahre jüngeres Ich nicht erreichen!«
»Du hast recht«, sagte Chad mit fester Stimme. »Wir müssen es versuchen! Aber sei auf der Hut: Leute wie Morris tragen nicht nur ein Handy mit sich herum …«
Vorsichtig und leise krochen die beiden aus ihrem Versteck hervor und schlichen über den Trampelpfad in Richtung Parkplatz zurück, immer darauf bedacht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und immer darauf vorbereitet, dass Morris jeden Augenblick hinter einem der Felsen, Bäume oder Büsche hervorspringen könnte.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie leise Schritte auf dem felsigen Boden hörten. Noch bevor sie sich in Sicherheit bringen konnten, tauchte eine Gestalt vor ihnen auf. Myra hielt erschrocken die Luft an. Doch dann atmete sie erleichtert auf. Es handelte sich nicht um Morris, sondern um eine Frau.
»Chad …?«, begann Myra leise.
Aber der fiel ihr ins Wort.
»Verhalte dich ganz ungezwungen. Bleib ruhig. Alles wird gutgehen.« Er drückte ihr aufmunternd die Hand.
Doch zu ihrem großen Erstaunen ging die Fremde nicht an ihnen vorbei, sondern steuerte direkt auf sie zu und sprach sie leise an.
»Ich heiße Meghali Mazumdar. Ich weiß, wer ihr seid, und ich weiß über Morris Bescheid. Ich versuche, euch zu helfen.«
Myra starrte die Frau an. Sagte sie die Wahrheit? Woher hatte sie ihre Informationen?
Sie musterte die Fremde. Die Frau war etwas kleiner als sie selbst, und sie verkörperte all das, was Myra sich unter einer Frau aus Indien vorstellte. Sie hatte eine vollschlanke weibliche Figur, langes, glänzendes schwarzes Haar, durch das sich nur ganz wenige silberne Strähnen zogen, obwohl Myra sie auf Ende vierzig schätzte, und tiefbraune Haut. Ihre dunklen Augen, die beinahe schwarz waren, blickten Myra und Chad aus einem ebenmäßigen Gesicht ruhig entgegen. Meghali Mazumdar war in Myras Augen eine sehr, sehr schöne Frau.
»Ihr müsst mir vertrauen«, bat sie mit eindringlicher und sehr ernster Stimme. »Ihr seid in Gefahr.«
»Woher sollen wir wissen, dass du nicht für Morris arbeitest?«, fragte Chad geradeheraus.
Meghali sah sie bittend an. »Unsere Schicksale sind miteinander verbunden. Auf welche Weise, das weiß ich nicht, aber Morris ist angewiesen worden, mein zwanzig Jahre jüngeres Ich aus dem Weg zu räumen. Und ich bin mir sicher, er hat dasselbe mit euch vor. Wir müssen ihn aufhalten!«
Chad sah die Frau forschend an.
»Wir haben uns noch nie getroffen. Auch vor zwanzig Jahren nicht. Wie können unsere Schicksale miteinander verknüpft sein?«
»Du hast recht. Wir haben uns nie getroffen. Es gab keinen Grund dafür. Aber so, wie die Dinge nun liegen, müssen wir uns treffen, müssen unsere Schicksale sich verknüpfen – vor zwanzig Jahren –, um Morris und seinesgleichen zu stoppen.«
Chad warf einen Seitenblick auf Myra, die starr und bleich neben ihm stand. Ihre Hand, die er noch immer hielt, war eiskalt. Sie brauchten Hilfe. Sie mussten das Risiko eingehen.
»Also gut«, stimmte er schließlich zu. »Erzähl uns, was du über diese ganze Angelegenheit weißt.«
»Nicht hier«, warf Meghali hastig ein. »Unterwegs, im Auto.«
Die drei machten sich auf in Richtung Parkplatz. Der Trampelpfad wurde schon bald so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten. Meghali ging voran, gefolgt von Myra. Chad bildete das Schlusslicht.
Die Felssäulen erschienen plötzlich und unbemerkt, und bevor Myra wusste, was mit ihr geschah, war sie auch schon hindurchgeschritten.
K APITEL 12
Zweifel
D as sonderbare Gefühl, das seltsame Ziehen, das sie jedes Mal spürte, wenn ein Wechsel stattfand, durchlief ihren Körper auch jetzt, und einen Augenblick lang wusste Myra nicht, wer sie wirklich war und wo sie sich befand.
Chad war sofort an ihrer Seite und half ihr, sich zu setzen. Er schwieg, denn er wollte sie erst einmal zur Ruhe
Weitere Kostenlose Bücher