Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
Veranda.
»Sie ist schon seit über einem Tag fort«, sagte Chad.
»Es ist eine lange Zeit«, antwortete Meghali. »Sie wird gewiss bald zu uns zurückkehren und …«
In diesem Moment erschien Myras schlanke Gestalt an genau der Stelle, an der sie zuvor in die Geisterwelt gewechselt war. Und genauso wie Runa schwebte sie waagerecht über dem Boden.
Kurz darauf fiel sie unsanft zu Boden. Sie hielt sich verwirrt den Kopf. Als sie Chad auf der Veranda entdeckte, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
»Chad!«, flüsterte sie leise. Sie stand auf und ging zu ihm hinüber.
Chad ergriff ihre ausgestreckte Hand und drückte sie liebevoll. Myra sah in seine dunklen Augen und hätte beinahe vergessen, dass sie nicht allein waren.
Die Tür der Hütte öffnete sich, und Heather trat zu ihnen auf die Veranda.
»Schön, dass du wieder bei uns bist, Kind.«
Myra blickte verlegen auf, und Röte stieg ihr ins Gesicht.
»Heather, Meghali! Es ist so gut, euch wiederzusehen!«
»Komm in die Hütte, Kind, es ist kühl geworden«, meinte Heather mütterlich und schob Myra über die Türschwelle.
Sie machten es sich auf den alten Stühlen bequem, die im gemütlichen großen Zimmer in der Nähe des Holzofens um einen kleinen Tisch standen. Myra fühlte, wie die anderen darauf brannten, ihren Bericht zu hören. Sie selbst war so aufgebracht, dass die anderen sie bremsen mussten, damit sie überhaupt ein Wort verstanden. Die neuen Erfahrungen und Ereignisse brachen geradezu aus ihr heraus.
»Du sagst, Morris hat Emma entführt?«, fragte Heather entsetzt.
»Dieser Mensch schreckt vor gar nichts zurück!«, warf Meghali aufgebracht ein.
So langsam und so geordnet, wie es ihr möglich war, berichtete Myra alle Einzelheiten.
»Und als ich diesmal in die Geisterwelt wechselte«, erklärte sie, »waren keine Felssäulen notwendig. Auch dann nicht, als ich von der Zukunft in Runas Welt wechselte. Es geschah einfach so …«
Heather lächelte sie an.
»Ich habe es gewusst!«
Dann berichtete Myra von Timaq und von der Gabe, die Runa von ihm erhalten hatte, von dem nächtlichen Überfall und davon, wie Runa Halvars Gabe in Kansbars Zelt eingesetzt hatte, damit Erdis und sie entkommen und weiterreisen konnten.
»Ich muss den Schlüssel finden, die Antwort, die wir brauchen, um Morris und seinesgleichen zu übertrumpfen. Er hat unsere Tochter, Chad!« Sie blickte ihn eindringlich an.
Chad fand es jedes Mal merkwürdig, wenn Myra in dieser Weise über ihre mögliche Zukunft sprach. Aber er wusste, dass das, was sie dort sah und erlebte, Wirklichkeit für sie war. Genauso wirklich wie die Augenblicke, die sie zusammen mit ihm, mit Meghali und Heather im Jetzt erlebte. Für sie war Emma eine reale Person, für ihn selbst war sie im Augenblick nicht mehr als eine Hoffnung.
Trotzdem versuchte er, sie zu beruhigen.
»Wir denken genauso, aber du musst dich jetzt erst einmal ausruhen.«
»Dazu ist keine Zeit!«, entfuhr es Myra. »Es ist ein Rennen gegen die Zeit! Sollte es Morris gelingen, den Talisman zu finden, bevor wir es tun, dann … Seine Leute werden die Kräfte des Talismans missbrauchen und gegen die ganze Menschheit einsetzen! Sie haben keinerlei Skrupel!«
»Morris hat bisher noch keinen Weg gefunden, auf die gleiche Weise in die Geisterwelt zu reisen wie du. Ich glaube nicht, dass er eine Chance hat, den Talisman ohne deine Hilfe zu finden.«
»Deshalb versuchen wir, Morris in Schach zu halten«, stimmte Meghali ihm zu, ihre dunklen, beinahe schwarzen Augen mitfühlend auf Myra gerichtet.
»Du darfst dich nicht unnötig unter Druck setzen«, meinte nun auch Heather. »Die Reisen in die Geisterwelt rauben dir viel Energie. Du musst dir Ruhe gönnen, sonst kannst du dir großen Schaden zufügen. Du reist ohnehin sehr viel öfter, als jeder Schamane es gutheißen würde.«
Myra sah unruhig von einem zum anderen. Dann platzte sie damit heraus, was sie seit ihrer Rückkehr beschäftigte.
»Und was ist, wenn mein älteres Ich Morris erzählt, wo der Talisman zu finden ist?«
Die anderen sahen sie überrascht an.
»Was meinst du damit?«, fragte Chad.
Myra suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um den anderen das seltsame Gefühl beschreiben zu können, das sie seit einiger Zeit immer öfter überkam. »Ich fühle, dass sich irgendetwas verändert … nicht in mir … sondern …«
»Sondern?«, hakte Chad nach.
»… dass mich das, was ich bei den Ahnen erlebe, im Jetzt beeinflusst, dass es mich
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