Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
ihr. Er lehnte sich mit der Schulter gegen einen der Verandapfosten und genoss die ungewohnte Nähe. Er spürte Myras Arm und roch den Duft ihres Haars. Behutsam ergriff er ihre Hand.
Überrascht blickte Myra zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln. Ihre Blicke trafen sich.
Tief in Chads Augen las Myra, was sie dort bisher nur auf ihren Reisen in der Zukunft gefunden hatte.
Erleichterung und unsagbares Glück erfüllten ihr Herz, als sie erkannte, was es war. Nun wusste sie, dass alles gut werden würde, solange Chad bei ihr war. Sein Blick verriet ihr, dass er von nun an für sie – und nur für sie – da sein würde. Und als sie ihren Kopf an seine Brust legte und ihre Arme fest um seinen Körper schlang, war es wie die Heimkehr in ein lange vergessenes Zuhause. Sie gehörte hierher, zu Chad, in seine Arme. Sie konnte es nicht länger unterdrücken!
Wie lange hatte sie gebangt, dass ihr das Glück und die Liebe, die sie auf ihren Reisen in der Zukunft mit Chad erlebt hatte, im Jetzt nicht vergönnt sein könnten. Chad hatte ihr gesagt, die Zukunft liege in ihren eigenen Händen, egal, was sie auf ihren Reisen dorthin sehen und erleben würde. Die Zukunft sei noch nicht wirklich festgelegt. Aber was wäre gewesen, wenn sie im Jetzt etwas getan oder gesagt hätte, das Chad dazu veranlasst hätte, sie nicht zu lieben? Sie hätte es sich niemals verzeihen können, denn sie wusste nur zu gut, was ihr damit entgangen wäre.
Ihre Müdigkeit war plötzlich verschwunden, und sie fühlte sich erfüllt von neuer Energie.
Chad beugte sich zu ihr hinunter und legte sanft seine Arme um sie.
Die Welt um sie herum verblasste. Alles, was Myra in diesem Augenblick sah, waren Chads bernsteinfarbene Augen. Alles, was sie spürte, waren seine Berührungen und sein Herzschlag.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich ihre Lippen fanden.
Dann küsste Chad sie mit all der Zärtlichkeit und all dem Verlangen, das Myra sich immer schon von einem Kuss erträumt hatte.
Heather steckte ihren Kopf zur Tür heraus. »Ich störe euch nur ungern, aber ich glaube, es ist an der Zeit, dass Myra wieder auf Reisen geht«, sagte sie entschuldigend.
Myra und Chad lösten sich nur widerstrebend voneinander und schenkten einander ein vielsagendes Lächeln. Dann kehrten sie in die wohlige Wärme der Hütte zurück.
Myra trat ihre Reise in die Geisterwelt diesmal von dem kleinen Schlafraum der Hütte aus an. Chad war bei ihr. Sie standen sich gegenüber und hielten sich an den Händen.
»Ich werde auf dich warten«, sagte Chad und küsste Myra zärtlich.
»Ich werde zurückkommen«, erwiderte Myra mit fester Stimme.
Im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt. Ihr Blick galt nicht mehr Chad, sondern richtete sich auf einen unbestimmten Punkt an der Wand. Sie löste sich aus Chads Griff und machte einen Schritt auf diesen Punkt zu. Dann verschwand sie.
Chad musste zweimal hinsehen, um sich davon zu überzeugen, dass seine Augen ihm keinen Streich spielten. Myra war tatsächlich verschwunden! Und obwohl er wusste, was geschehen war, lief ein kalter Schauer über seinen Körper, und seine Nackenhaare sträubten sich.
Eine plötzliche Leere erfüllte Chads Herz. Eben noch hatte Myra neben ihm im Schlafraum gestanden, jetzt war sie fort, und er war allein. Als hätte sie nie existiert.
Müdigkeit überkam ihn. Auf der einen Seite fühlte er sich so glücklich wie nie zuvor in seinem Leben, auf der anderen Seite war er wie ohnmächtig vor Sorge um Myra, die er auf ihren Reisen nicht beschützen konnte.
Er fand keine Ruhe. Also nahm er eine der Decken und ging auf die Veranda. Dort legte er sich auf die Bodenbretter und zog die Decke fest um sich. Irgendwie fühlte er, dass er, wenn er wach blieb und an sie dachte, Myra auf ihrer Reise unterstützen und helfen würde.
Seine Gedanken streiften zurück zu der Sirupflasche, die vorhin auf so wundersame Weise am Rande des Tisches angehalten hatte. Konnte es Zufall gewesen sein? Nein. Chad glaubte nicht an Zufälle. Eine Ahnung tief in seinem Inneren wurde immer stärker. Aber konnte es wirklich wahr sein, dass Myra – ohne dass es ihr selbst bewusst gewesen war – Runas Gabe benutzt und die Flasche mit ihrer Willenskraft angehalten hatte? Er musste geduldig sein und Vertrauen haben.
Leise sang er ein altes indianisches Lied. Es war ein Gebet an den Großen Geist, in dem um Beistand und Führung der Jäger während der Jagd ersucht wurde. Denn Myra befand
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