Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
gebracht worden waren, befand sich mitten in einer wüstenartigen, wie ausgedörrt wirkenden Landschaft. Es gab keine hohen Bäume, keine großen Sträucher. Das spärliche Gras, das den Boden bedeckte, war kurz und wuchs in kleinen Büscheln. Eine Brise wehte beständig über das beinahe flache Land. Erst am Horizont waren hohe Berge zu erkennen. In der Nähe des Lagers schlängelte sich ein kleiner Bach, in dessen Nähe mittelgroße haarige Tiere grasten, wie Runa und Erdis sie noch nie zuvor gesehen hatten, und kleine struppige Pferde, wie die, auf denen sie hierhergebracht worden waren. Die Bewohner schienen ein kriegerisches Hirtenvolk zu sein.
Die Männer stießen sie unsanft vor sich her und führten sie zu einem anderen Zelt. Es war größer als alle anderen im Lager und außen reich mit aufgemalten Symbolen verziert. Runa und Erdis schlossen daraus, dass sie dem Anführer vorgestellt werden sollten.
Im Inneren erwartete sie ein schwergewichtiger Mann von mittlerer Größe. Er saß auf einem Berg von Fellen und strahlte Faulheit und Anmaßung aus. Seine Kleidung war, genau wie sein Zelt, reich mit Symbolen verziert. Seine kleinen dunklen Augen musterten die Frauen herablassend. Er richtete einige Worte an die Männer, die Runa und Erdis zu ihm gebracht hatten, woraufhin diese sich lautlos an den Rand des Zeltes zurückzogen. Dann wandte er sich den Frauen zu. Runa und Erdis waren überrascht, als sie hörten, dass er ihre Sprache sprach.
»Ich heiße Kansbar. Ich bin der Anführer dieser mutigen Krieger. Mein Reich erstreckt sich in alle Himmelsrichtungen bis zum Horizont. Meine Männer und ich sind gefürchtet von all unseren Nachbarn.«
Runa und Erdis ließen sich nicht beeindrucken. Runa war geradezu angewidert, denn offensichtlich hatte dieser gefürchtete Anführer gestern Nacht seine Männer nicht in den Kampf geführt, sondern friedlich in seinem Zelt geschlummert und gewartet, bis sie von ihrem Raubzug zurückgekehrt waren.
»Mein Hauptmann sagt mir, dass ihr mich sprechen wollt«, fuhr er fort. »Ihr seid offenbar nicht aus dieser Gegend. Sagt, was ihr hier zu tun habt.«
Runa erzählte von ihrer Aufgabe. Den Talisman erwähnte sie nicht.
»Wir haben den Schamanen, der uns gestern begleitet hat, während des Kampfes aus den Augen verloren«, schloss sie ihre Erzählung. »Wir bitten dich, großer Kansbar, uns gehen zu lassen, damit wir ihn suchen und unsere Reise fortsetzen können.«
Ohne zu zögern, erwiderte Kansbar: »Das kann ich nicht tun. Aber ich kann euch beiden einen Platz unter meinem Dach anbieten. Ihr würdet eine willkommene Bereicherung meiner Frauenschar abgeben.«
Runas Hoffnung schwand. Kansbar schien einer dieser Menschen zu sein, die sich einfach über die Gebote der Geister hinwegsetzten, und das scheinbar ohne Folgen.
Seit sie das Zelt betreten hatten, hatte Runa sich darauf konzentriert, ihren Willen auf Kansbar zu übertragen. Halvar konnte allein durch die Kraft seiner Gedanken Wolken auflösen, Tierherden in bestimmte Richtungen lenken, ja, er konnte sogar Berge versetzen. Es sollte ihr, da ihr diese Gabe von Halvar übertragen worden war, eigentlich möglich sein, Kansbars Willen so zu beeinflussen, dass er sie gehen ließ. Aber es gelang ihr nicht, und das machte sie zornig.
»Ich fühle mich sehr geehrt, aber ich muss dein freundliches Angebot ablehnen. Meine Aufgabe ist von größter Wichtigkeit, sie muss unbedingt zu Ende geführt werden. Die Geister wären dir sehr freundlich gesinnt, wenn du mir auf meinem Weg helfen würdest.«
»Die Geister sind mir sowieso freundlich gesinnt«, fiel Kansbar ihr barsch ins Wort. »Nun gut, wenn du nicht bleiben kannst, dann deine Freundin.« Er sah sehr zufrieden aus.
Runa versuchte, weiterhin Respekt zu zeigen, aber innerlich verzweifelte sie über so viel Anmaßung und Dummheit.
»Ich benötige die Hilfe von Erdis, um meine Aufgabe erfolgreich zu erfüllen. Ich kann sie nicht zurücklassen.«
»Ihr wollt also unter keinen Umständen mein gutgemeintes Angebot annehmen!«, rief Kansbar aus. »Ich glaube nicht an eure Geschichte von einer wichtigen Aufgabe. Ich werde euch mit einem Fluch belegen und die Ältesten entscheiden lassen, was mit euch geschehen soll!«
Runa spürte, wie Wut in ihr aufstieg und sich wie eine Hitzewelle in ihrem Körper ausbreitete. Ihre Augen verdunkelten sich, und ihre Lippen wurden schmal.
Erdis kannte diesen Ausdruck im Gesicht der Freundin nur zu gut und bedeutete ihr zu schweigen.
Die
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