Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
sich im Augenblick auf einer Jagd, auf einer Jagd nach Antworten in der Geisterwelt.
K APITEL 17
Freund
E rdis, schau!« Runas Hand legte sich auf den Arm der Freundin. Mit der anderen deutete sie zum Horizont, wo eine Gruppe von Reitern aufgetaucht war.
Erdis’ graue Augen richteten sich auf die Fremden, aber sie konnte noch keine Einzelheiten erkennen. Sie bemerkte jedoch sofort, dass die Reiter angehalten hatten und zu ihnen herübersahen.
»Ich hoffe, das ist der Schamane, der uns die nächste Zeit begleiten wird«, meinte Erdis.
Runa hoffte das auch. Sie waren schon länger als sechsundzwanzig Monde unterwegs und hatten die unglaublichsten Dinge erlebt. Sie hatten viele hilfsbereite und gute Menschen getroffen, aber auch solche wie Kansbar, die sich nicht um den Willen der Geister kümmerten und Erdis und ihr Böses hatten antun wollen. Runa wusste, dass sie es nur den großzügigen Gaben der Schamanen, mit denen der Talisman und sie selbst geehrt worden waren, und dem guten Willen der Geistwesen zu verdanken hatten, dass Erdis und sie bisher unversehrt geblieben waren. Manchmal fragte sie sich insgeheim, wie lange diese Reise, dieses Überbringen ihrer Botschaft, wohl noch dauern würde. Denn obwohl sie Erdis bei sich hatte, vermisste sie die Menschen, die Gemeinschaft des Dorfes und ihre Familie sehr. All das hatte sie vor scheinbar unendlich langer Zeit in weiter Ferne zurückgelassen.
Sie wanderten noch immer durch die Steppe, die sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Runa sehnte sich nach dem Schutz und dem leisen Rauschen der Bäume, die in ihrer Heimat wuchsen, und nach dem steten Wellenschlag und der salzigen Luft des Meeres. Sie wusste, Halvar hatte ihnen gesagt, sie würden ihre Heimat nie wiedersehen. Aber vielleicht hatte er sich dieses eine Mal ja geirrt. Runa wünschte sich das manchmal.
Die vergangenen Monde hatten Runa verändert. Sie war Menschen gegenüber vorsichtiger geworden, hatte aber gleichzeitig größeres Vertrauen in ihren Glauben gewonnen – zumindest was die Kraft und den Willen der Geistwesen anging. Mehr und mehr wuchs sie in die Rolle der Botschafterin hinein. Auch war sie sehr viel selbstsicherer geworden. Und obwohl sie schon lange vor Beginn der Reise von Erdis gelernt hatte, so waren es doch die vergangenen Monde gewesen, die Runa dazu bewegt hatten, mehr als je zuvor von der Freundin zu lernen und deren Haltung und Wissen zu bewundern.
So fühlte sie sich auch an diesem frühen Morgen, als sie, wie gewohnt, gleich nach einem kalten kargen Frühstück nach Osten aufgebrochen waren, der aufgehenden Sonne entgegen.
Runa seufzte leise. Dann besann sie sich wieder auf die Reiter, die ihnen noch immer aus großer Entfernung entgegenblickten.
Die Frauen gingen erhobenen Hauptes weiter. Runa blickte immer wieder zu Erdis, die ruhig und gleichmäßig neben ihr ging, und lächelte stolz über deren entspannte Gesichtszüge, die keinerlei Angst zeigten.
Plötzlich stürmte eine zweite Gruppe von Reitern aus Richtung Norden über die karge Steppe. Ihre lauten Angriffsschreie hallten durch den stillen Morgen. Die langen Messer in ihren erhobenen Händen blitzten in der Morgensonne, und die Hufe ihrer Pferde brachten den Boden zum Beben. Runas Herz machte vor Schreck einen Sprung. Erschrocken griff sie nach Erdis’ Hand.
Auch Erdis war zutiefst erschrocken.
Waren sie das Ziel dieser wilden Horde?
»Ihr guten Geister!«, stieß Erdis leise aus, während Runa verzweifelt versuchte, ihre Fassung zu wahren. Angst würde ihnen jetzt nicht helfen.
Doch die Angreifer schwenkten ab.
Unvermittelt blieben Runa und Erdis stehen.
Dann geschah alles ganz schnell. Auch die erste Reitergruppe stimmte nun ein wildes Geschrei an und galoppierte den Angreifern mit gezogenen Waffen entgegen.
Nur wenig später war ein blutiger Kampf ausgebrochen. Die Männer schlugen mit dicken Keulen aufeinander ein, Pfeile zischten durch die Luft, und lange Kupfermesser bohrten sich in die Leiber der Gegner.
Der Kampf endete so schnell, wie er begonnen hatte.
Runa und Erdis standen noch immer starr und beobachteten, wie die siegreichen Reiter die Pferde in ihre Richtung lenkten.
Ein einzelner Reiter löste sich aus der Gruppe und hob stumm den Arm. War es ein Signal zum Angriff oder ein Zeichen des Grußes?
»Bleib ruhig«, sagte Runa zu Erdis. »Ich habe ein gutes Gefühl.« Ihr zierlicher Körper richtete sich auf, und ihr Gesicht nahm einen stolzen Ausdruck an.
Erdis blickte Runa
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