Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
mein älteres Ich daher noch nicht direkt erinnern kann. Womöglich Informationen über den Talisman, die ich als jüngeres Ich auf Reisen in die Geisterwelt gesammelt habe. Und wir vermuten, dass die Erinnerung an diese Reisen irgendwo tief in meinem älteren Ich verborgen liegt und dass diese Erinnerung mir helfen könnte, den Talisman zu finden.« Sie sah erregt in die Runde. »Ihr wisst, was das bedeutet: Ich muss schneller sein als mein älteres Ich, und ich muss in die Geisterwelt zurückkehren, bis ich alles gesehen habe, was die Geistwesen mich sehen lassen wollen, und dann muss ich den Talisman als Erste finden!« Sie stand entschlossen auf.
»Warte!«, rief Chad und nahm sie bei der Hand. »Du hast gesagt, dass du dich erst einmal ausruhen wirst!«
Myra ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen und sah die anderen bittend an.
»Es tut mir so leid, dass ich mich in der Zukunft so hysterisch aufführe. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich bin bis jetzt nie hysterisch gewesen.«
Heathers weise Augen sahen sie gütig an. »Bis jetzt bist du auch keine Mutter.«
»Ich glaube nicht, dass ich eine sein möchte, wenn man dann automatisch hysterisch wird«, erwiderte Myra und warf Chad einen verlegenen Blick zu. »In der Zukunft scheint alles schiefzugehen«, fügte sie hinzu. »Ich spüre es, wenn ich dort bin, und ich spüre es jetzt!«
»Du darfst nicht vergessen, Kind, dass die Zukunft noch unbestimmt ist. Und dass sie sich ständig verändern kann«, mahnte Heather. »Die Zukunft, in die du reist, wenn du in der Geisterwelt bist, stellt nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Vielleicht gibt es sie gar nicht. Vielleicht wird sie dir nur gezeigt, damit du dich in der Gegenwart noch mehr anstrengst, die richtigen Dinge zu tun. Unsere Handlungen und Entscheidungen im Jetzt, in diesem Augenblick, bestimmen unsere Zukunft.« Sie machte eine Pause. »Es liegt an uns, die Zukunft durch unsere Handlungen im Jetzt zu verändern – zugunsten aller Menschen. Daran musst du dich immer erinnern.«
Myra sah Heather dankbar an.
»Das werde ich tun. Es ist nur so entmutigend, dass ich, während ich in der Zukunft bin, sehe, was dort falsch läuft, dass ich mein älteres Ich mit meinem Wissen aus dem Jetzt aber nicht erreichen kann, um ihm zu helfen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob dein älteres Ich stark genug ist für das Wissen, das du besitzt. In der Regel gibt es einen Grund dafür, dass nicht alle Menschen zwischen den Welten und den Zeiten hin und her reisen können. Du selbst bist am Ende deiner Kräfte, und die Nerven deines älteren Ichs sind zum Zerreißen gespannt«, warf Chad ein.
»Ich glaube, der Grund, warum die Geistwesen dich diese Zukunft sehen und erfahren lassen, ist, dass du dir der Fehler deines älteren Ichs bewusst wirst und dass du sie nicht wiederholst«, sagte Heather.
»Aber ich bin überhaupt nicht so!«
»Myra, ich spreche nicht unbedingt von den Charakterschwächen deines älteren Ichs, sondern vielmehr von den Entscheidungen und Handlungen, die du deswegen getroffen hast. Erinnerst du dich, worüber wir eben gesprochen haben?«
Myra überlegte. »Du hast recht, Heather. Aber ich spüre noch immer diese Dringlichkeit … Ich muss unbedingt noch einmal in die Geisterwelt reisen, solange die Möglichkeit besteht!«
»Ich stimme dir zu«, entgegnete Heather und schenkte ihr ein Lächeln. »Aber vorher wirst du dich ausruhen. Die Reisen in die Geisterwelt zehren an deinen Kräften. Das Schicksal vieler Menschen hängt von diesen Reisen ab und von den Informationen, die du dabei sammelst. Eine solch große Verantwortung darfst du nicht auf die leichte Schulter nehmen. Du musst gesund und stark bleiben, um deine Aufgabe zu erfüllen. Also wirst du dich jetzt ausruhen«, entschied sie.
Als Heather die Ungeduld in Myras Augen sah, fügte sie lächelnd hinzu: »Nur ein paar Stunden, Kind.«
K APITEL 20
Gefahr
D as Nächste, woran Myra sich erinnerte, war, dass sie plötzlich aus einem tiefen Schlaf erwachte. Verschlafen rieb sie sich die Augen. Wo war sie? Was war geschehen?
Sie blickte sich um und erkannte, dass sie sich noch immer in der kleinen Jagdhütte der Familie Blue Knife befand. Sie hatte keine Uhr, aber sie spürte, dass sie länger geschlafen hatte als ursprünglich gewollt. Ein Blick durch das schmale Fenster verriet ihr, dass die Sonne schon untergegangen war.
Von Heather und Meghali, die im anderen Zimmer sein mussten, war kein Laut zu hören. Sie mussten
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