Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
rieb sich den Kopf, als könnte sie damit ihre Gedanken klären. Dies war die kleine Jagdhütte der Blue Knifes. Sie war wieder sie selbst. Ein Seufzer der Erleichterung entwich ihrer Kehle.
Myra stellte fest, dass sie auf dem Fußboden des Schlafraumes lag, das schmale Bett in ihrem Rücken. Dankbar setzte sie sich auf und lehnte sich dagegen.
Sie ließ ihren Blick durch den kleinen Raum streifen und entdeckte, dass Chad in einer Ecke des Zimmers auf einem Stuhl saß und schlief, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Er hatte wohl versucht, wach zu bleiben, bis sie zurückkehrte, aber der Schlaf hatte ihn irgendwann übermannt.
Sie stand langsam auf, ging leise zu ihm hinüber und betrachtete liebevoll sein Gesicht. Anspannung zeichnete sich darauf ab. Unwillkürlich streckte sie ihre Hand aus und streichelte ihm zärtlich über die Wange.
»Chad! Chad, ich bin zurück.«
Er war sofort wach. Er hatte nicht tief geschlafen. Sein Körper schmerzte vom langen Sitzen auf dem harten Holzstuhl, aber das war sofort vergessen, als er Myra erblickte.
»Myra!« Er sprang auf, zog sie fest in seine Arme und küsste sie innig. »Ich habe dich vermisst!«
Er blickte sie so durchdringend an, dass Myra die Röte ins Gesicht stieg.
»Ich dich auch«, sagte sie mit bebender Stimme, und eine wohlige Wärme durchflutete ihren Körper. »Und das, obwohl wir gerade erst getrennt worden sind.«
»Du warst in der Zukunft?«, fragte Chad und streckte seinen Körper.
»Ja, und bei den Ahnen.«
»Du siehst erschöpft aus«, begann Chad, aber er verbesserte sich sofort. »Ich meine, du bist schön, aber …«
Myra lachte leise.
»Ist schon gut«, wehrte sie ab. »Ich fühle mich so furchtbar müde, es wäre ein Wunder, wenn man es mir nicht ansehen würde.«
Chad grinste sie entschuldigend an, und drückte sie erneut fest an sich.
»Komm«, er deutete auf das schmale Bett, »leg dich eine Weile hin, dann wirst du dich besser fühlen. Ich werde Heather und Meghali sagen, dass du zurück bist.«
Myra hob abwehrend die Hand.
»Lieber nicht. Du weißt, wie groß der Druck ist, der auf mir lastet. Deshalb möchte ich euch allen von meinen Reisen berichten, solange die Erinnerung daran noch frisch ist.«
»In Ordnung«, sagte Chad einlenkend. »Aber danach schläfst du ein paar Stunden. Versprochen?«
»Versprochen.« Myra lächelte. Dann griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest. »Ich wünschte, wir hätten mehr Ruhe und Zeit füreinander. Es gibt so viel, was ich dir sagen möchte.«
Chad strich ihr zärtlich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich auch.«
In diesem Augenblick klopfte es leise an der Tür.
»Myra, bist du zurück?«
»Komm nur herein, Meghali«, antwortete Myra.
Die Tür ging knarrend auf, und Meghali betrat das Zimmer.
»Mir war, als hätte ich deine Stimme gehört«, sagte sie lächelnd und umarmte Myra herzlich. »Ich bin froh, dass du wieder bei uns bist.« Dann fügte sie hinzu: »Kommt, Heather wartet gespannt im anderen Zimmer. Sie hat zu gute Manieren, um hier einfach hineinzuplatzen.«
Wenig später saßen alle vier um den runden Holztisch im großen Zimmer der Jagdhütte. Heather hatte Tee gemacht und Sandwiches und Obst hergerichtet, und sie hielt ein scharfes Auge darauf, dass Myra ordentlich zulangte. Sie hatte die große Erschöpfung in dem hübschen Gesicht der jungen Frau gesehen. Aber da war noch etwas anderes: eine Veränderung, eine neue Quelle der Kraft.
Während Myra vorsichtig den wohltuenden heißen Kräutertee trank und ab und zu von einem der Sandwiches abbiss, erzählte sie den anderen von den neuesten Ereignissen.
Sie berichtete von Xansu Shi und dessen Frau Tego, von ihren kleinen, stämmigen Pferden, von dem Zeltdorf und von der Gastfreundlichkeit, die Runa und Erdis entgegengebracht worden war. Aber sie berichtete auch von den Angreifern und von der Brutalität der Krieger im Kampf.
»Was mich aber am meisten beeindruckt hat, ist die Vision, die Runa gehabt hat, als sie in das Dorf geritten ist. Die Bilder, die sie gesehen hat, die ich gesehen habe, waren so stark, so wirklich.«
»Was waren das für Bilder?«, hakte Heather nach.
Myra versuchte, sich an alle Einzelheiten der Vision zu erinnern und nichts auszulassen.
»Jetzt ist mir klar«, schloss sie ihre Erzählung, »dass Runa ein Dorf der Zukunft gesehen hat, ein Dorf aus unserer Zeit. Sie hat sich über die merkwürdig aussehenden Gebäude gewundert, die für uns
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