Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
besänftigend.
»Welche Richtung sollen wir einschlagen?«, überlegte Chad laut. »Der Schweinehund wird sich schneller an unsere Stoßstange hängen, als uns lieb sein kann.«
»Fahr einfach«, erwiderte Myra unruhig.
»Da ist er schon!«, rief Meghali, die durch das Rückfenster sah. »Ich kann seinen Wagen erkennen!«
Morris schaltete unerwartet die Scheinwerfer ein, und Meghali hielt sich schützend die Hand vor die Augen.
Jetzt schaltete auch Chad die Scheinwerfer ein. Es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein, Morris hatte sie längst gefunden.
»Wir müssen Morris irgendwie loswerden!«, rief er den Frauen zu, die sich an Türen und Sitzen festklammerten, und fuhr noch ein bisschen schneller.
Doch es gelang ihm nicht, Morris abzuhängen. Der Chrysler klebte an ihrer Stoßstange.
»Pass auf die Kurve auf!«, rief Myra entsetzt. Schotter wirbelte durch die Luft, und der Wagen schlitterte gefährlich.
Myras Herz raste, und ihr wurde übel.
»Er versucht, sich neben uns zu drängen!«, schrie Meghali.
»Der Abhang! Er kommt immer näher!«
»Er will uns den Abhang hinunterdrängen!«
Chad brauchte seine ganze Konzentration, um den Wagen auf der Straße zu halten.
»Morris darf nicht gewinnen! Ich muss Myra schützen!«, flüsterte er.
Myra versuchte, den Blick nicht von der Straße abzuwenden, aber das gelang ihr nicht. Immer wieder sah sie zu dem steilen Abhang rechts von ihr. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie klammerte sich so fest an den Griff über der Tür, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Alles wird gutgehen, alles wird gutgehen!«, murmelte sie wieder und wieder.
Die großen Zedern und Fichten sahen im Scheinwerferlicht nicht mehr majestätisch und anmutig aus, sondern wirkten verärgert, weil ihre nächtliche Ruhe gestört wurde, und seltsam bedrohlich. Myra wusste, dass einer dieser Bäume ausreichen würde, um sie alle auf ihre letzte Reise zu schicken.
Wieder fuhren sie durch eine scharfe Kurve. Äste schlugen gegen die Frontscheibe. Myra zuckte zusammen. Es hörte sich an wie Gewehrschüsse. Plötzlich bekam die Scheibe einen Sprung. Innerhalb von Sekunden verwandelte er sich in einen tiefen Riss und fraß sich durch das Glas.
»Gütiger Himmel!«, stieß Meghali aus und deutete nach vorne. Die Straße war von Wasser überspült! Der kleine Bach zur Linken war über die Ufer getreten. Chad hatte keine Wahl. Er konnte nicht abbremsen, denn Morris klebte noch immer an seiner Stoßstange. Er musste durch die riesige Pfütze hindurchfahren, koste es, was es wolle.
Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Wasser war viel tiefer, als er angenommen hatte, und der lose Schotter war spiegelglatt. Der Wagen schlitterte gefährlich nahe an den Rand des Abhangs.
»Verdammt!«, rief Chad, während er verzweifelt versuchte, den Wagen wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Doch es war zwecklos. Das Auto rutschte immer weiter auf den Abhang zu.
Myras Hände waren schweißnass. Sie würden in die Tiefe stürzen!
Mit all ihrer Kraft stemmte Myra ihre Arme gegen die Decke des Wagens. Ein lautes »Nein!« entfuhr ihrer Kehle. »Nicht hier!«, flüsterte sie immer und immer wieder. »Nicht hier!«
Je mehr sie sich konzentrierte, desto langsamer wurde der Wagen, und schließlich begann er, sich zu drehen. Für die vier Insassen geschah alles in Zeitlupe, während es in Wirklichkeit nur Bruchteile von Sekunden dauerte. Der Wagen stieß mit voller Wucht auf der anderen Straßenseite gegen den Berghang, drehte sich wieder – und schoss in die Tiefe!
Schreie drangen durch das Innere des Wagens.
Plötzlich erschien die Gestalt Timaqs vor Myras geistigem Auge, und sie stemmte ihre Arme erneut mit aller Kraft gegen das Dach des Autos, als versuche sie, es zurück auf die Straße zu heben. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, einen Ausweg aus der Katastrophe zu finden, dass sie nichts anderes denken konnte.
Chad, Meghali und Heather hielten den Atem an, die Augen aufgerissen vor Entsetzen und Verwunderung. Der Wagen stürzte nicht wie ein Stein in die Schlucht hinunter, sondern schwebte leicht wie eine Feder dem Boden entgegen.
Myras Gesicht war starr wie eine Maske, während sie sich mit aller Kraft gegen das Dach des Autos stemmte.
Keiner der anderen wagte es, sie anzusprechen, aus Angst, dass der Zauber brechen würde. Und sie alle spürten in ihrem Herzen, dass es allein Zauberei sein konnte, die sie in diesem Augenblick vor
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