Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
einfach nur moderne Häuser sind. Und die glänzenden leblosen Dinger zwischen den Häusern sind nichts anderes gewesen als Autos. Für Runa aber waren all diese Eindrücke fremd und unbegreiflich, weil es sie in ihrer Zeit noch nicht gegeben hat.«
»Und die Zaubermaschine, die die Angreifer benutzt haben, um das Dorf zu zerstören, waren moderne Bomben.« Meghali erschauerte.
»Runa wurden Bilder aus der Zukunft gezeigt, Bilder, die ihr einen Einblick in das Schicksal des Dorfes verschafft haben, das sie gerade betreten wollte«, wiederholte Myra. »Warum dies geschehen ist, weiß ich nicht. Runa hat sich sehr verändert, seit sie ihre Reise begonnen hat. Sie spürt es selbst. Sie verändert sich mehr und mehr in eine …« Myra suchte nach dem passenden Wort und musste lächeln: »… in eine Schamanin«, beendete sie den Satz. »Und ihre neuen Fähigkeiten verändern sie auf allen möglichen Ebenen, ohne dass es ihr bewusst ist.«
Meghalis dunkle Augen weiteten sich.
»Wir wissen natürlich nicht genau, wo Runa sich auf ihrer Reise gerade befindet, aber …« Sie brach ab.
»Aber was ?«, wollte Myra wissen.
»Ich musste nur gerade an die Marienerscheinungen denken«, fuhr Meghali fort.
»Marienerscheinungen?«, fragte Chad.
»Ich weiß, es ist sehr weit hergeholt … Aber ihr habt sicherlich schon Berichte gelesen, in denen beschrieben wird, wie Menschen die Gestalt der Maria an Orten, an denen großes Leiden herrschte, gesehen haben, wie sie durch das Elend und die Zerstörung schreitet und die Menschen neue Hoffnung schöpfen lässt. Sie spricht nie mit ihnen. Aber es sind nicht nur die christlichen Heiligenerscheinungen, viele Kulturen berichten von ähnlichen Phänomenen.«
Myra sah sie erstaunt an.
»Du meinst, Runa könnte so eine Gestalt gewesen sein?«
»Ja«, antwortete Meghali. »Vielleicht hat es sich bei den Bildern, die Runa gesehen hat, gar nicht um eine Vision gehandelt. Vielleicht haben das Leid und das Ausmaß der Zerstörung Runa einfach zu den Menschen geführt. Du hast selbst gesagt, dass Runa sich sehr verändert. Es ist möglich, dass sie spürt, wo ihre Hilfe gebraucht wird, auch über die Grenzen der Zeit hinweg.«
Die anderen schwiegen nachdenklich. Konnte Meghali recht haben?
»Die Gabe, die Runa von Xansu Shi erhalten hat«, überlegte Myra, »war eine ganz besondere. Sie hat schon viele solcher Gaben auf ihrer Reise bekommen. Ihre spirituellen Kräfte wachsen schnell. Ich könnte mir vorstellen, dass Meghalis Annahme richtig ist.«
»Du hast uns noch nichts von dieser besonderen Gabe erzählt«, meinte Chad. »Bevor wir vom Thema abkommen, bringst du deinen Bericht besser zu Ende.«
Myra berichtete von Xansu Shis Kampf gegen den anderen Mann, an dessen Ende er tot zu Boden gefallen war.
»Runa und Erdis waren entsetzt, aber die anderen blieben ruhig, sogar seine Frau. Sie schien sich nicht daran zu stören, dass Xansu Shi offensichtlich tot war.«
»Offensichtlich«, bekräftigte Meghali gespannt.
»Erst nach langer, langer Zeit lief plötzlich ein Schauer durch seinen Körper, und er erwachte zu neuem Leben«, erzählte Myra. Sie war noch immer tief beeindruckt von Xansu Shis Vorstellung. »Runa dachte, er wäre Herr über den Tod, aber er erklärte ihr, dass er nur seinen Körper und seine Atmung so weit beherrsche, dass er für tot gehalten werde. Er könne diesen Zustand jederzeit beenden.«
Chad stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
»Und das war die Gabe, die er an Runa weitergegeben hat?«
Myra nickte.
Nun kam sie zu dem Teil ihres Berichtes, der ihr unbehaglich war, zu ihrer letzten Reise in die Zukunft .
Sie erzählte den anderen von ihrer Rückkehr nach Squalath, von ihrem Streit mit Chad und von Meghalis Versuch, zu schlichten. Immer wieder warf sie einen unsicheren Blick zu Chad. Ihr Verhalten in der Zukunft gefiel ihr ganz und gar nicht, und sie fragte sich, was er darüber dachte. Sie wollte nicht in seiner Gunst sinken. Aber Chad verzog keine Miene, sondern hörte aufmerksam zu.
Myra berichtete von den Schlussfolgerungen, die Chad und Meghali gezogen hatten, warum Morris ihr zwanzig Jahre jüngeres Ich ausschalten wollte und dass sie als jüngeres Ich Reisen in die Geisterwelt unternahm.
»Wir haben von deinen Reisen erfahren?«, fragte Chad alarmiert.
»Ja.« Myra nickte. »In der Zukunft nehmen wir an, dass es eine Änderung in der Vergangenheit – unserem Jetzt – gegeben hat, etwas, das sich gerade erst verändert hat und an das sich
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