Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
fragte nicht um Erlaubnis, er setzte sich in eine Bank und ließ den Zauber des Augenblicks auf sich wirken. Er schreckte zusammen, als Grandma sich hinter ihm räusperte.
»Dankeschön«, sagte er leise.
»Ich wußte, es würde Ihnen gefallen«, flüsterte Grandma. »Eine Nachbildung der Kathedrale von Laon in Frankreich.
Leider ist der größte Teil nur Videoprojektion, und doch – ich kenne keinen schöneren Raum. Erhaben, nicht wahr?«
»Welche Vollkommenheit«, meinte Timothy. »Die Linien, das Licht und dann diese Musik –«
»Und der Raum, Mister Truckle, vergessen Sie nicht den Raum! Glauben Sie mir, die Räume, in denen ein Mensch lebt, haben eine starke, unterbewußte Wirkung auf ihn. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Gelegenheit hat, die Schönheit von Höhe und Weite zu genießen, oder ob man sich in engen Räumen bewegen muß. Es ist nicht bloßer Luxus, wenn wir, wie einst die Fürsten, in Schlössern leben, es verleiht ein Gefühl von Würde und Freiheit, von Macht und Sicherheit. Die Wirkung des Raumes wird von den meisten Menschen verkannt; das Unwissen darüber ist geradezu erschreckend.«
Das Unwissen ist behördlich verordnet, dachte Timothy bissig. Und vielleicht sogar barmherzig. Was half es den Leuten, zu wissen, wie sehr räumliche Bedrängnis sie verformte, wenn sie es doch nicht ändern konnten? Er wußte, warum er Unsummen für sein Appartement, vor allem für die Videowände, ausgab. Er hatte an der Universität noch den letzten Vorlesungszyklus von Professor Mosler gehört, bevor der wegen »Mißbrauchs der Wissenschaft zu staatsgefährdenden Umtrieben und Aufwiegelei« verurteilt wurde.
Mosler hatte mit seinem Team jahrelang soziologische und psychologische Studien in den Chicagoer Wohnmaschinen getrieben und nachgewiesen, daß nicht nur Tiere, sondern auch Menschen oberhalb einer bestimmten Siedlungsdichte mit psychischem Fehlverhalten reagierten: mit steigender Aggression und Brutalität, Verkümmerung der Bindungsfähigkeit, selbst der Mutterinstinkte, sexuell abnormem Verhalten, Zuflucht zu Drogen und Psychopharmaka, Neigung zu unvernünftigem Reagieren, seelischer Not und Vereinsamung; die Zahl der Neurosen und anderer Nervenkrankheiten war beängstigend. Mosler hatte schon damals verkündet, der psychisch schlecht angepaßte Mensch sei längst zum Regelfall geworden, und die Chance für ein Neugeborenes, einmal eine Nervenkrankheit zu bekommen, sei zehnmal so groß wie die Chance auf eine anständige Schul- oder Berufsausbildung. Aber sollte Timothy Grandma belehren?
Der Zauber der Kathedrale war verflogen, schlimmer, das Spiel von Raum und Licht, Farbe und Musik verbitterte ihn jetzt. Früher einmal hatten selbst die einfachsten Leute, sogar Bettler und Ausgestoßene, diese Kirchen besuchen können, kannten die Weite der Landschaft, des wolkenlosen Himmels, den Blick in die Unendlichkeit der Sternenwelt; heute dagegen waren Weite und Raum ebenso zum Privileg geworden wie Stille und unkontrollierbare Privatsphäre. Die meisten Menschen waren ihr Leben lang in Lärm und Enge eingeschlossen, in winzigen Wohnungen, niedrigen, von Maschinen und Geräten verstellten Werkräumen, in den Betonwüsten der Häuserschluchten, der hautnahen Überfülle der Fahrstühle, Untergrundbahnen und Flugzeuge, dem drangvollen Gewimmel der Vergnügungsparks und Showetablissements. Timothy stand auf.
»Ich vermute, Sie wollten mir nicht nur Ihre Kathedrale zeigen.« Grandma führte ihn auf dem kürzesten Weg in ein Arbeitszimmer, verschloß sorgsam die Tür, öffnete einen Identicatsafe und hielt ihm mit triumphierender Miene einen Kristall hin.
»Videographien von Fordsville. Und die Baupläne!«
Timothy studierte schweigend die Aufzeichnungen: Park, Salons und Säle, Videothek und Küche, Gänge, Fahrstühle und Treppen, aber auch ein paar Blicke in Fords Inneres Reich, alles sehr zufällig, oft verwischte Schwenks; Timothy vermutete, daß die Aufnahmen heimlich von einem Bediensteten mit versteckter Kamera gemacht worden waren. Das für ihn Wichtige, die Sicherungsanlagen und die unterirdischen Klinik-Etagen, waren nicht dabei. Die Bauzeichnungen interessierten ihn nur, weil es geheime Dokumente waren.
»Darf ich mir die einmal mitnehmen?« erkundigte er sich. »Ich müßte sie gründlich studieren.«
»Tun Sie es! Ich lese derweilen ein wenig. Hier bei mir dürfen Sie die Aufnahmen so oft und so lange studieren, wie Sie wollen.« Gwendolyn Magginthy nahm ungeniert ein Buch zur
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