Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
daß Seabridge in einer Bucht liegt; die Bucht ist vom Meer abgeschlossen. Hier hat früher einmal ein Gezeitenkraftwerk gestanden, aber es kommt doch hin und wieder vor, daß ein Schwall verseuchtes Wasser einbricht. Die Plastic schützt selbst vor den aggressivsten Giften.«
Sie öffnete eine Tür in der gläsernen Wand und ging mit aufreizend schaukelnden Hüften hinaus. Die Ebbe hatte das Wasser vom Cottage abgezogen, sie mußten über schlickigen Grund waten. Timothy spürte nichts von der künstlichen Haut, es war, als ob er barfuß liefe. Inger nahm ihn an die Hand und führte ihn auf einem für Timothy nicht erkennbaren, verschlungenen Weg. »Passen Sie auf, daß sie nicht in Muscheln oder Clacks treten und die Plastic aufreißen!«
So müßtest du dich aufnehmen lassen, dachte Timothy: Zwerg Adam und die Riesen-Eva mit den Silberköpfen.
Dann schwamm er. Zum ersten Mal in seinem Leben im Meer. Als einer der ganz wenigen Menschen, die das überhaupt noch erleben durften, jedenfalls in den Staaten. Er nahm sich vor, Anne zu fragen, wie das DRAUSSEN sein mochte. Er war ausgelassen wie ein kleiner Junge, tauchte unter den Wellen hindurch, schnellte über die gischtigen Kämme, spritzte und strampelte Fontänen mit den Füßen, schwamm lange Strecken unter Wasser, sah sich den sandigen Grund an, jagte einen bläulichen Fisch, den er für einen Aal gehalten hätte, wenn er nicht stachlige Rückenflossen gehabt hätte, kraulte eine Strecke, so schnell er konnte, viel schneller als Inger; er legte sich auf den Rücken und machte »toter Mann«, damit sie ihn einholen konnte.
Auch von See aus war Bentley-Cottage ein schwer einzuschätzender, verwinkelter Bau. Über dem Dach hing müde das Sternenbanner am Mast. Timothy bemerkte erst beim zweiten Hinsehen, daß es noch die alten »Stars and Stripes« waren, sogar die »Half Hundred Stars« 9 , wie er amüsiert feststellte. Bentley war offensichtlich sehr konservativ.
»Donnerwetter, sind Sie schnell!« Inger ließ sich schweratmend neben ihm treiben. »Zufrieden?«
»Nein, glücklich! Das war die beste Idee Ihres Lebens, Inger, mich hierherzulotsen. Ich möchte Sie küssen!«
»Wenn Sie gepanzert sind, werden Sie mutig, was?«
Inger ließ ihm Zeit, das Meer zu genießen. Obwohl sie sicher darauf brannte, mit ihm über das verschwundene Sperma ihres Chefs zu sprechen, drängelte sie nicht, auch nicht, als Timothy sich dann an den Strand hockte, Sand durch die Finger rieseln ließ, aufgeregt eine Muschel vorzeigte, aufsprang und wie ein übermütiges Kind durch die an Land klatschenden Zungen des Ozeans patschte und weitere Muscheln suchte; er fand sogar Seesterne und ein Seepferd und legte sie Inger wie eine Jagdtrophäe zu Füßen. Dann saßen sie still nebeneinander und blickten auf den Pazifik hinaus. Erst jetzt bemerkte Timothy das fahle Licht, das sich wie ein gläserner Horizont aus dem Wasser zum Himmel schob und dann mit der Luft zu verschmelzen schien.
»Liegt Seabridge unter einer Klimasphäre?« fragte er.
»Meinen Sie das da?« Inger zeigte aufs Meer. »Das ist die ISOLATION, Tiny!«
Wie oft hatte er dieses Wort gehört und gesagt. Fast täglich benutzte man es, aber kaum einmal dachte man daran, daß das ja nicht nur ein Zustand war, ein abstrakter Begriff, sondern ganz konkrete, materielle Form annehmen mußte. Wenn man lange genug in einem unabänderlichen Zustand lebt, dachte Timothy, dann verinnerlicht man ihn derart, daß man gar nicht mehr viel darüber nachdenkt. Das also war die alles beherrschende, unüberwindliche Grenze zwischen DRINNEN und DRAUSSEN, die wie eine Käseglocke über die Staaten gestülpt war und von niemandem und nichts ohne Genehmigung durchbrochen werden konnte.
»Haben Sie eine Ahnung, wie es funktioniert?« fragte Inger. Timothy gestand ihr, daß er nicht einmal eine vage Vermutung hatte. Vielleicht wußte Anne, wie es funktionierte, doch sie würde es ihm kaum verraten. Gib niemandem ohne zwingenden Grund eine gefährliche Information: das oberste Gebot des Überlebens. Timothy wollte es auch gar nicht wissen. Niemals. Wenn er nur in den Verdacht geriete, er könne etwas über das Geheimnis der ISOLATION wissen, würde er die Videokeller der NSA nie wieder lebend verlassen. Oder völlig verrückt.
»Gibt es hier Boote?« fragte er. »Ich möchte gerne mal hinausfahren und es mir aus der Nähe ansehen.«
»Das hat wenig Sinn«, erwiderte Inger. »Je näher man kommt, desto weniger sieht man. Irgendwann bleibt das
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