Der Samenbankraub: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)
grübelst.«
»Man kann das Hirn elektrisch reizen und so verschüttete Engramme wieder freilegen.«
»Ich dachte, mit dem Resurrector könne man nur akute Eindrücke aktivieren?«
»Du brauchst ein Zusatzgerät, es ist gar nicht so teuer. Ich habe es einmal probiert, Tiny, es war verblüffend: Ich konnte mich plötzlich wieder an das Tapetenmuster meines Kinderzimmers erinnern, an Gerüche und Melodien aus meiner Babyzeit –«
»Das muß ich haben!« rief Timothy.
»Ich warne dich. Weißt du, was alles aus den Tiefen deines Unterbewußtseins auftauchen kann?«
»Ich will über meine Erinnerungen verfügen können«, sagte Timothy bestimmt. »Ich will die einzige Liebe meines Lebens nicht verblassen, im Gegenteil, ich will sie wachsen lassen!«
»Mit der Fähigkeit zu lieben wächst auch der Schmerz«, gab Doc zu bedenken.
»Da merke ich wenigstens, daß ich lebe!«
»Wehre dich nicht gegen das Vergessen, Tiny, es ist lebenswichtig. Ohne die Möglichkeit zu vergessen würden die Menschen verrückt.«
»Und ohne die Erinnerung wären sie nichts als Tiere«, konterte Timothy.
»Schon gut.« Doc lachte. »Zum Wesen des Menschen gehört aber auch, daß er maßhalten kann.«
»Ich will nicht maßhalten. So maßlos wie meine Liebe, so soll auch meine Trauer sein! Ich weiß, es ist unmodern, aber ich bin in vielem konservativ. Ich möchte mich nicht verstecken, ich möchte trauern dürfen wie die Alten, die Kleider zerreißen, den Bart raufen, lauthals wehklagen und weinen, überall Annes Loblied singen – aber ich muß so tun, als wüßte ich nicht einmal, daß sie tot ist, und nicht nur, weil sie unter so heiklen Umständen starb; man belästigt heutzutage niemanden mehr mit seiner Trauer, man muß so tun, als habe sich nichts geändert. Früher war man barmherziger: Der Hinterbliebene bekam Kondolenzbesuche, Trostbriefe, er fand den Beistand der Familie, der Nachbarn, Trost von der Kirche; bestimmt wurde man durch die offene Bekundung der Trauer leichter mit dem Verlust fertig als durch unsere heuchlerische Verkriecherei. Es gilt doch geradezu als unmoralisch, wenn man zugibt, daß man leidet; der Tod ist tabu geworden, dabei sind wir andauernd von ihm umgeben. Überall lauert er, aber alle tun so, als gäbe es nur das ewige Leben.« Timothy schwieg erschöpft.
»Vergiß nicht, daß, von den Ärzten und dem Pflegepersonal abgesehen, kaum noch jemand einen Sterbenden zu Gesicht bekommt«, sagte Doc.
»Eine Perversion mehr in unserer schönen Welt«, rief Timothy, »das Sterben zu Hause per Gesetz unter Strafe zu stellen! Doch nicht wegen der Hygiene, sondern weil die Sterbekliniken und Selbstmordpaläste ein Bombengeschäft sind.«
»Ich möchte gerne wissen, wieviel Profit die Kliniken allein durch die Gewinnung von Blutplasma und transplantationsfähigen Teilen aus den Toten schlagen«, stimmte Doc zu.
»Bist du sicher, daß sie immer warten, bis der Sterbende tot ist?«
Doc zuckte mit den Schultern. »Der Tod ist, wie alles hierzulande, zum Geschäft degeneriert. Sei froh, daß Anne nicht in einer Sleeping Beauty Hall aufgebahrt wurde.« 69
Timothy nickte. Er hatte oft genug Gelegenheit gehabt, den »American way of death« zu studieren, diese Pornographie des Todes, wie es jemand einmal genannt hatte, die auf lebend geschminkten Leichen, die »Bestattungskunst«, deren oberstes Ziel es war, jeden Gedanken an den Tod zu verdrängen.
»Ich war bei der Beerdigungsorgie von Cyrus Cassidy«, sagte Doc, »ein widerliches Spektakel, ganz abgesehen davon, daß es eine Farce war.«
Das »Cassidy-Funeral« war die wohl spektakulärste Totenfeier der Staaten, ein zehn Tage dauerndes Fest in allen Räumen des Cassidy-Palastes an der Peripherie von Chicago, das von allen Fernsehstationen der USA ausgiebig gewürdigt wurde. Der Leichnam lag rosig geschminkt auf einem historischen Renaissance-Bett mit Prunkbaldachin, leicht auf die Seite gedreht, den Kopf aufgestützt, als wollte der Tote sich nur einen Augenblick von den Strapazen des Festes ausruhen. Tausende von Videoaufzeichnungen gaukelten vor, daß Cassidy unter den Feiernden weilte; er wurde immer wieder, oft gleichzeitig in mehreren Räumen, »gesehen«, und alle taten, als seien sie nicht Gast einer Beerdigung, sondern eines Jubiläums. Cassidy selbst hatte das Spektakel inszeniert und genaue Regieanweisungen hinterlassen. Höhepunkte waren dann die über alle Videoschirme ausgestrahlten »letzten Worte« des Verstorbenen sowie die Lobeshymnen der
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