Der Samurai von Savannah
eher in die Lederszene. Doch weder Irving Thalamus noch Bob der Dichter stand auf ihren Typ, ganz zu schweigen von Sandy De Haven, einer neuen, hochinteressanten Ergänzung der Truppe: sechsundzwanzig, mit weiß gefärbten Locken, die ihm in die Augen hingen, wenn er sich über den Billardtisch beugte. Sein erster Roman sollte im Herbst bei Farrar, Straus and Giroux erscheinen. Nein. Hier regierte Ruth allein, sie war die Königin des Schwarms.
In dem Maße, wie ihr Selbstvertrauen wuchs, kam auch bei der Arbeit mehr heraus. Sie polierte eine alte Erzählung auf und schickte sie, mit Irving Thalamus’ Segen, an den New Yorker , und das japanische Thema ging ihr auf einmal prächtig von der Hand, es gedieh dermaßen gut, dass es sich anfühlte wie etwas Größeres als nur eine Kurzgeschichte. Und hierzu gehörte auch jener zweite Aspekt, jener andere Faktor, der Ruths Leben in Thanatopsis von Grund auf verändert hatte und ihr eigentlich ebenso in den Schoß gefallen war wie Irving Thalamus’ Wohlgesonnenheit: das Auftauchen von Hiro Tanaka auf der Veranda ihres Studios. Hiro Tanaka, der Vogelfreie, der Renegat, der Schrecken von Tupelo Island, der Clara Kleinschmidts Unterhosen entwendet, Bobby und Cara Mae Cribbs verwünscht, den Sheriff und die Einwanderungsbeamten genarrt hatte. Hiro Tanaka, der Mittagessen-Räuber. Er war ihr Geheimnis, ihr Schatz, gehörte nur ihr, und damit hatte sie allen anderen etwas voraus.
Sie hatte ihn auf frischer Tat ertappt, auf ihrer Veranda, damals an jenem stürmischen Nachmittag vor zehn Tagen, hatte ihn mit dem Beweisstück in der Hand erwischt, während die Bäume sich im Sturmwind bogen und die Erde bebte und ein Schwefelgestank sich wie eine Decke über die drückende, stickige Luft legte. Er zögerte, sie sah es in seinem Blick: einerseits Wiedererkennen, andererseits Verwirrung – er hatte sie nackt gesehen, ihre Brüste, ihren Nabel, ihre Schamhaare –, und einen kurzen Moment lang wich der dumpfe Schock animalischer Überraschung aus seiner Miene. Essen war eine Sache, die erste Sache, ja, und da war eben die zweite.
Sie hatte keine Angst, kein bisschen. Er war nur ein Junge, verschreckt und verdreckt, mit fieberglänzenden Augen, zerrissenen Sachen, einen Fetzen aus fasrigem rotem Stoff um den Kopf geknotet. Er sah nicht einmal richtig japanisch aus mit den hellbraunen Augen und dem rötlichen Haar, oder doch? Da war die Epikanthusfalte, die sie aus der Völkerkunde kannte, das runde Gesicht und die platte Stupsnase, die leichten O-Beine und der allzu gelbe Ton seiner zerkratzten, zerstochenen Gliedmaßen. Kniff man die Augen zusammen, war er Toshiro Mifune, kniff man sie nochmals zusammen, war er jemand ganz anderes.
Er rührte etwas in ihr an, ja wirklich. Es geschah alles so rasch an jenem ersten Tag, so überstürzt, dass sie gar keine Zeit zum Nachdenken hatte: Sie sah ihn dort stehen, hungrig und verschüchtert, und wollte ihn am liebsten in den Arm nehmen. Er war das mutterlose Rehkitz, das sie als Kind hinter der Ferienhütte am Lake Arrowhead gefunden hatte, er war das Eichhörnchen, das von der Katze angefallen worden war, er war das Waisenkind aus einem namenlosen Dorf, das sie in den Hochglanzzeitschriften aus eingesunkenen Augen von einer Schwarz-Weiß-Anzeige anflehte. Sie hatte kein Motiv außer Mitgefühl, keinen Wunsch außer dem, zu helfen – oder wenn doch, dann war er tief begraben, ganz unten am Grund ihres Unterbewusstseins, wo Pläne und Intrigen und Gegenintrigen ihr erstes verborgenes Dasein fristen. Er war ja ein Kitz, war wirklich bemitleidenswert, und wenn der Behälter mit Essen für ihn die Rettung bedeutete, wollte sie ihn nicht verscheuchen.
Der Regen peitschte auf ihn nieder. Sein Haar war von Kletten verfilzt, die Nasenlöcher verkrustet, die Lippen gesprungen. Er klemmte sich den Behälter in die Ellenbeuge und trat einen Schritt zurück. Wie konnte sie ihn überzeugen, was konnte sie sagen? Nimm ruhig, lass es dir schmecken, ich bin sowieso auf Diät, mein Bett ist warm und trocken, und wo all das herkommt, gibt es noch eine Menge mehr davon, ich will dir helfen, ich will dich hier behalten, ich will, dass du mir gehörst. Sie sagte nichts. Er sagte nichts. Aber ihre Miene musste all das und noch mehr ausgedrückt haben, und als er zurückwich, als ihm der Regen schluchzend vom Gesicht perlte und das Grün rings um ihn herum benetzte, das ihn zu verschlingen drohte, da hob sie langsam, ganz langsam, ohne zu atmen, die Hände
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