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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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dachte mir doch gleich, dass ich heute irgendwo da draußen Donna Summer gehört habe.«
    Wo denn Turco an diesem Abend sei? Spürte er etwa dem Verbrecher nach, während sie hier saßen? »O nein«, hatte Abercorn erwidert, »so fanatisch ist er auch wieder nicht. Nein, er mag einfach keine Dächer.« »Dächer?« echote sie, die Lippen schon zum Lächeln gespannt. »Sie werden mir das gar nicht glauben«, sagte er, hob eine warme Dose Coca-Cola zum Mund und setzte sie wieder ab, »aber gestern Abend, als es so geregnet hat …?« Sie nickte. »Da ist er aus unserem Zimmer hier oben verschwunden, samt Rucksack, und hat irgendwo im Busch da draußen sein Zelt aufgeschlagen.« Auch darüber lachten sie sich miteinander schief, und Ruth blickte in Abercorns rosa Äuglein und fand, dass er eigentlich irgendwie süß war.
    Zwei Tage vergingen. Abercorn hing in Thanatopsis House herum, und ein paar der Künstler – vor allem Regina McIntyre – begannen zu murren. Von Turco war nichts zu sehen, der hockte draußen in seinem Zelt oder robbte durch die Sümpfe und setzte seine ganze widerliche Energie daran, Ruths Geheimnis mit der Wurzel auszureißen, ehe es Früchte tragen konnte. Durch die Stille der Nachmittage wummerte bisweilen Disco-Musik, weit weg, leise, tödlich. Der Behälter mit Essen blieb an seinem Haken hängen.
    Und dann, am dritten Tag, tauchte Hiro wieder auf. Mindestens eine Stunde musste vergangen sein, nachdem Owen auf die Veranda geschlichen war und den Aluminiumbehälter an den Haken gehängt hatte – sie hatte ihn gehört, hatte das Knarren der zweiten Stufe gehört, die lose war, aber sie war nicht herumgefahren, hatte sich mit vehementem Maschinengeklapper abgeschirmt. Eine Reihe X marschierte über die Seite, dann noch eine, ehe sie sich behutsam umdrehte und Owens stoppelhaarigen Hinterkopf auf dem Pfad zu »Diane Arbus« verschwinden sah, wo Sandy, der Wunderknabe, eifrig an seinem zweiten Roman feilte. Ruth verlor das Zeitgefühl, obwohl ihr der Magen knurrte, sie vermischte im Geist Hiros Gesicht mit dem ihrer gescheiterten, hoffnungslosen Heldin, sie war in einer anderen Welt, die Schreie der todgeweihten Kinder klangen ihr in den Ohren, das Meer zog sie hinab, als die Stufe erneut knarrte.
    Sie erstarrte. Langsam, sagte sie sich, ganz langsam. Sie drehte ihm erst das Profil zu und hielt inne, erst dann blickte sie ganz über die Schulter. Da stand er vor der Tür, durch den Maschendraht wirkte er unwirklich. Das rote Stirnband war weg – jetzt trug er dort etwas anderes, bräunlich und verdreht –, und er war nackt bis zur Hüfte, die beiden Träger der Latzhose baumelten verloren hinten herab. Er machte keine Anstalten, sich das Essen zu nehmen.
    »Ich will dir helfen«, flüsterte Ruth.
    Er regte sich nicht, sagte kein Wort, stand nur einfach da. Sein Gesicht schien irgendwie weicher, als wäre er erschöpft oder würde gleich losheulen … und dann durchfuhr sie blitzartig eine intuitive Einsicht: Er war nichts als ein zu groß geratenes Kind, verstört, verletzt und ausgehungert.
    »Nimm das Essen. Ich habe es für dich hängen gelassen. Nimm es«, flüsterte sie, weil sie Angst hatte, die Stimme zu erheben und ihn damit zu verscheuchen.
    Sie sah ihn hart schlucken. Er trat von einem Fuß auf den anderen. Und dann nahm er das Essen vom Haken und drückte es an sich.
    »Hör mal«, flüsterte sie wie ein Jäger im Ansitz, »sie sind dir auf den Fersen, verstehst du? Zwei Männer, aus dem Großen Haus.«
    Er sagte nichts, aber sein Gesicht wirkte noch weicher. Er war am Ende, das konnte sie sehen. Er war bereit aufzugeben, das Handtuch zu werfen, sich Handschellen anlegen zu lassen.
    »Ich werde nicht zulassen, dass sie dich fangen«, sagte sie. »Ich bringe dir etwas zum Anziehen und zu essen, du kannst hierbleiben, wo dich keiner sieht.« Sie hob ein Bein an und schwang auf dem Drehstuhl ganz langsam zu ihm herum. Ihr ganzes Leben lang war sie mit einem gewöhnlichen Gesicht und Körper ausgekommen, hatte damit sogar Triumphe gefeiert und Legionen von Männern sprachlos gemacht. Sie besaß das undefinierbare Etwas, das sie alle haben wollten, und sie war sich dessen bewusst. Jetzt, mit vierunddreißig, besaß sie es immer noch und zwanzig Jahre Erfahrung dazu: sie war unwiderstehlich. »Komm schon rein«, sagte sie immer noch flüsternd, jetzt aber mit einem gebieterischen, scharfen Unterton. »Mach die Tür auf. Setz dich hin und iss!« – sie machte die entsprechenden Bewegungen

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