Der sanfte Kuss des Todes
jeder so wie er – dass nämlich alle, die sich als Teil dieser Gemeinschaft betrachteten, auch tatsächlich dazugehörten.
»Lucy war ein ziemlich aufmüpfiger Teenager«, erklärte Jack. »Ihre Eltern sind strenggläubige Katholiken. Besonders ihr Vater war schon immer sehr religiös. Kurz vor der Entführung hatte sich Lucy mit ihm gestritten und türenschlagend das Haus verlassen. Als sie dann zwei Tage verschwunden blieb, dachten vermutlich viele Leute, sie wäre weggelaufen. Auch die Jäger, die sie fanden, glaubten nicht, dass sie gegen ihren Willen festgehalten worden war. Sie dachten, dass sie sich an den Falschen herangemacht und nur das bekommen hätte, was sie verdiente.«
Fiona schüttelte den Kopf und sah weg.
»Lucy ist ziemlich übel mitgespielt worden. Von der Polizei und von den Leuten hier in der Stadt.« Jack knirschte mit den Zähnen. »Sogar von ihrem Vater. Ich glaube nicht, dass er ihr je Glauben geschenkt hat. Es war ihre Mutter, die sie zu einer Anzeige überredet hat, und das erst Tage, nachdem es passiert war. Zu spät jedenfalls, um noch irgendwelche Spuren an ihrem Körper zu sichern.«
Fiona lehnte ihren Kopf gegen die Kopfstütze und seufzte. »Und Sie meinen, dass ich das alles wiedergutmachen kann. Elf Jahre danach. Das geht nicht.«
»Sehen Sie mich an, Fiona.«
Sie sah ihn an, und er wusste, dass er die Sache noch nicht verloren geben musste. Seine Worte hatten sie berührt – das konnte er in ihren Augen sehen.
»Ich glaube wirklich fest daran – nein, ich bin überzeugt davon, dass zwischen Lucys Fall und diesem Mord eine Verbindung besteht. Es gibt einfach zu viele Parallelen. Und Sie können sich denken, was das bedeutet. Dass nämlich ein Mann, der irgendetwas mit dieser Stadt zu tun hat oder sogar hier lebt, ein Vergewaltiger und Mörder ist. Der glaubt, dass er den Mädchen hier etwas antun kann, weil sie leichte Beute sind. Vielleicht weil sie illegale Immigrantinnen sind oder aus irgendeinem anderen Grund durch das Raster fallen und die Eltern der Polizei nicht über den Weg trauen. Ich glaube, dass er genau weiß, was er tut, und dass er es wieder tun wird. Und bevor das passiert, muss ich ihn kriegen.«
Fiona hielt den Kopf gesenkt.
»Kommen Sie mit, und sprechen Sie mit ihr. Wir sind doch schon fast da. Geben Sie ihr eine Stunde. Wenn nichts dabei herauskommt, fahren Sie nach Hause und vergessen das Ganze. Und keiner wird es Ihnen übelnehmen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Bitte.« Im selben Moment, in dem er es aussprach, wurde ihm klar, wie selten er dieses Wort gebrauchte.
Sie nickte zögernd.
»Danke.« Er atmete auf und legte den Gang ein. »Sie werden mich schneller wieder los sein, als Sie denken.«
Lucy Arrellando wohnte in einem weißen Holzhaus mit Wellblechdach gleich beim Bahnübergang. Ein staubiger schwarzer Chevrolet Cavalier stand in der Einfahrt. Der kleine Garten war von einem Maschendrahtzaun umgeben, und Fionas Blick fiel sofort auf das Schild, das vor einem Hund warnte.
Jack drückte gegen das Tor und hielt es ihr auf. Er schien
sich wegen des Hundes keine Gedanken zu machen, anders als Fiona. Sie hatte eine tief sitzende Angst vor Hunden – selbst vor kleinen Kläffern -, seit ein Scotchterrier sie in den Nacken gebissen hatte, als sie ein Kind war. Sie ging dicht hinter Jack über den Kiesweg und konnte gerade noch der Versuchung widerstehen, sich an seiner Jacke festzuklammern.
Das Haus war wie die anderen an den Gleisen liegenden Häuser ein typischer Nachkriegsbau. Bis zum Horizont schien sich die Häuserreihe zu erstrecken, eine schnurgerade Linie von Blechdächern. Es hatte etwas reichlich Absurdes an sich, dass die Häuser in dieser unendlich weiten Landschaft so eng beieinanderstanden.
Fiona sah sich ängstlich in dem Garten um. Kein Hund. Kein Bellen. Nur ein riesiger Pekanbaum, der das ganze Grundstück beschattete. Von dem niedrigsten Ast hing eine Schaukel herab und neben dem Stamm stand ein verrostetes rotes Spielzeugauto. Zaun hin oder her – der Gedanke, dass ein Kind so nah an den Gleisen spielte, gefiel ihr nicht.
»Wir sind ein bisschen zu früh dran«, sagte Jack, während er die wenigen Stufen hochging. »Aber das macht nichts, die Männer sind wahrscheinlich schon längst in der Raffinerie.«
Fiona dachte noch über seine Worte nach, als sich mit einem Quietschen die Fliegengittertür öffnete. Sie hob den Kopf und sah sich einer sehr hübschen jungen Frau mit einem Baby auf der Hüfte
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