Der Sarg: Psychothriller
Was meinen Sie damit?«
»Kann es sein, dass ich schlafwandle, während ich davon träume, in einem Sarg zu liegen? Vielleicht weil ich unbedingt da raus möchte? Weglaufen will? Und dass ich mich dabei verletze, weil ich an allen möglichen Stellen anstoße?«
Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Schlafwandeln tritt nur in einer Tiefschlafphase auf. In der Traumphase ist der Schlaf hingegen wesentlich oberflächlicher. Zudem kann man sich nach dem Aufwachen an nichts erinnern, egal, was man während des Schlafwandelns auch getan hat. Das Schlafwandeln ist also nie die Umsetzung eines Traums in tatsächliche Bewegungen, oder in Ihrem Fall die Umsetzung des Bewegungsdrangs, der dadurch entstehen könnte, dass Sie träumen, eingeschlossen zu sein. Nein, das glaube ich nicht. Aber das schließt natürlich nicht aus, dass Sie zuerst tatsächlich schlafwandeln und sich dabei die Verletzungen zuziehen und diesen Albtraum danach, vielleicht Stunden später, haben. Sind Sie früher schon mal geschlafwandelt?«
»Ja, ich glaube schon. Aber wie sollte das zeitlich gehen, ich wache doch immer innerhalb einer Sekunde auf. In einem Moment bin ich noch in dem Sarg eingeschlossen, im nächsten bin ich wach.«
»Das kommt Ihnen wahrscheinlich nur so vor, es könnten theoretisch aber trotzdem Stunden dazwischen liegen.«
Eva dachte darüber nach und griff nach dieser Theorie wie eine Ertrinkende nach einem Stück Holz. Diese Erklärung war zumindest halbwegs plausibel und gestattete trotzdem die Annahme, dass sie bei klarem Verstand war.
»Ja, vielleicht ist es ja tatsächlich so«, sagte sie. Leienberg nickte, hob dann aber wie zum Einwand eine Hand. »Wobei das aber erst einmal nur eine vage Idee ist, die Ihnen noch nicht viel weiterhilft. Auch lassen sich damit Ihre Erinnerungslücken, so, wie Sie sie mir bisher kurz geschildert haben, wahrscheinlich nicht erklären. Deshalb ist es wichtig, dass Sie wieder zu mir kommen. Wir können das Problem nur dann in den Griff bekommen, wenn wir genau wissen, worum es sich handelt und woher es kommt.«
Eva stand auf, ging hinüber zum Fenster und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenarbeitsplatte, während sie nach draußen sah. »Also gut. Wann?«, sagte sie gegen die Scheibe. Hinter ihr wurde ein Stuhl geschoben, Schritte kamen näher. Sie wandte sich nicht um, auch nicht, als sie spürte, dass der Psychiater unmittelbar hinter ihr stand.
»Ich bin froh, dass Sie einwilligen. Das ist eine sehr gute Entscheidung. Gleich morgen früh? Wieder um acht?«
»Ja, ist gut.« Eva rührte sich noch immer nicht, weil sie befürchtete, dass Leienberg ganz nah hinter ihr stand. Schließlich sagte er: »Dann bis morgen«, und Sekunden später entfernten sich seine Schritte. Eva stand noch immer am Fenster, als sie hörte, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde. Nur einen Moment später saß sie auf der Couch, und ihr Blick ruhte wieder auf der Uhr schräg gegenüber. Sie musste auf dem Weg zum Wohnzimmer so in ihren Gedanken versunken gewesen sein, dass sie gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, die Küche überhaupt verlassen zu haben. Das alles nahm sie offenbar noch viel mehr mit, als sie es sich selbst zugestehen wollte.
Sie hoffte, Dr. Leienberg würde ihr wirklich helfen können. Aber womit? Was konnte er ihr sagen, was sie nicht schon selbst wusste? Dass die Frau, die Ihr Vater geheiratet hatte, als sie fast noch ein Baby war, eine kaltherzige Person war, die Gefühle nur ihrer Tochter Inge gegenüber aufbrachte? Dass sie, Eva, täglich zu spüren bekam, dass sie nicht ihre Tochter war? Dass diese kaltherzige Frau dann einen Sohn bekam, den sie nicht haben wollte und den sie das bei jeder sich bietenden Gelegenheit spüren ließ? Selbst als Manuel noch ein Baby war und seine kleinen Arme nach seiner Mutter ausstreckte, hatte sie ihn angeschrien und die pummeligen Ärmchen zur Seite geschlagen. Dann war Eva hingegangen und hatte ihn auf den Arm genommen, obwohl sie selbst kaum größer war als er. Sie erinnerte sich an die Abende, später, an denen sie in ihrem Kinderzimmer in der Ecke neben ihrem Schrank gesessen und sich die Hände auf beide Ohren gepresst hatte, damit sie Manuels Schreie aus seinem Zimmer nebenan nicht hören musste. Und das Klatschen der Schläge, die seinen nackten Körper trafen, immer und immer wieder. Und ihr Vater? Was hatte der getan? Der hatte seinen Schlüssel genommen und war weggegangen und
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