Der Saubere Tod
eigentlich fühlte er sich nicht krank, er befand sich in einem Raum, der aus gleichmäßigem grauem Beton gegossen war, fugenlos, und weder Fenster noch Türen besaß. Das wäre soweit in Ordnung gewesen, hätte er nicht gewußt, daß er nicht immer hier drinnen, sondern irgendwann einmal woanders gewesen war. Er war hier hereingelangt, also gab es ein Draußen. Er konnte nicht ewig in dieser kalten Höhe verbleiben. Es gab ein Draußen. Er wurde immer ungeduldiger, aber er wußte nicht wohin. Dann schlug die Ungeduld auf ihn selbst zurück. Er hatte sich entfernt, weit entfernt und sah hinab in kühlem stumpfem unbeweglichem Haß, Haß, mit dem er nichts anfangen konnte. Sich selbst aber konnte er hassen, seine Krankheit, seinen Gestank, sein Warten, seine Starrheit, seine Unfähigkeit. Nichts hatte er getan, alles war ihm geschehen, ohne daß er es selbst erlebt hatte; ein lächerlicher Gummiball war er, der auf den Wellen herumkugelte,eine Seifenblase war er, man ging durch ihn hindurch, aber was hatte er auch getan, um einen Durchgang versperren zu können, was hatte er getan, um die Videomenschen in ihren Bewegungen versteinern zu lassen, um Farbe in die matten Spiegelungen zu pumpen, alles zerfloß ihm zwischen den Händen, wohin mit diesem Gefühl: wenn alles so beliebig ist, warum ihm dann nicht eine andere Form geben, irgendeine andere Form; statt dessen lag er im Bett. Diese Ungeduld, diese Unruhe, was lag jenseits seiner Betonzelle?
Johann stand auf und begann das Krankenzimmer zu demolieren. Er schleuderte die Nierenschale gegen die Wand, er schmetterte das Glas mit dem Thermometer auf den Boden, er riß die Matratze aus dem Bett, wuchtete sie aufs Waschbecken und öffnete den Wasserhahn, er stieß die Schranktür auf und zerbrach die dünnen hölzernen Kleiderbügel über seinem Oberschenkel. Daß er sich wehtat beim erfolglosen Versuch, einen dickeren Bügel zu zerbrechen, daß die Matratze sich langsam, ruhig und ohne Protest vollsog, daß die Nierenschale nicht kaputtzukriegen war, machte ihn desto wütender, als weigerten die Dinge sich ganz einfach mitzuspielen, nachdem er sich nun einmal entschlossen hatte, sie zu verändern. Er zog die Stores aus ihren Halterungen, und das scharfe Reißen des Stoffs erfüllte ihn mit Befriedigung. Als er das Fenster einschlagen wollte, erschien das vom Lärm alarmierte Krankenhauspersonal, packte ihn, hielt ihn fest und injizierte ihm ein Beruhigungsmittel in den Arm. Bevor er das Bewußtsein verlor, nahm er noch wahr, wie gleichgültig ihn der Aufruhr ließ, den er in den Gesichtern seiner Wärter verursacht hatte.
Er wachte auf in einem wiederhergestellten Zimmer, aber die Ungeduld war noch immer da, und noch immer zeichnete sich keine Lösung ab, und Johann begann wieder zu warten.
Am Nachmittag zur Besuchszeit öffnete sich plötzlich die Tür, und Peter trat ein, in einem weißen Kittel, mit blauen Überschuhen und einer Plastiktüte in der Hand.
Peter war fremd, mit dunkelgefärbtem Haar über dem bleichen Gesicht, das von der Farbe des Kittels war, bis er zu sprechen begann. Es war dieselbe Stimme, und Johann erinnerte sich. Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht, weil du dich bestimmt langweilst.
Johann starrte ihn noch immer an, es dauerte eine Weile, bis er aus seiner kalten neuen Höhe herabgesunken war in die Vergangenheit. Peter legte eine dicke Wochenendausgabe der BZ auf den Nachttisch.
Darin vermutet niemand etwas Böses, sagte er grinsend.
Ich dachte eigentlich, du hättest mich vergessen, sagte Johann, oder du wärst schon tot. Oder hättest nie gelebt, wie die anderen. Seit ich hier drin bin, bin ich nicht mehr sicher, ob es euch überhaupt gegeben hat.
Vielleicht gibts auch dich nicht, sagte Peter, jedenfalls hast du keine Spuren hinterlassen. Aber wie du siehst, habe ich dich noch nicht vergessen.
Und was tut sich draußen? Was passiert?
Alles ist wie immer, sagte Peter. Nichts verändert sich. Alles geht völlig normal weiter, Tag für Tag, völlig unbeeindruckt. Weil niemand sich von etwas beeindrucken läßt, das ihm nicht selbst widerfährt. Nicht wirklich, nicht so, daß etwas sich ändern würde.
Ich wollte, es würde ihnen allen etwas widerfahren, was sie verändert, von Grund auf verändert, sagte Johann.
Hast du dich denn verändert?
Ich bin fortgegangen, ich weiß nicht, ob das Verändern ist.
Und nun bist du wieder hier, sagte Peter.
Es hat sich was verändert, sagte Johann, es sieht anders aus. Ihr seht anders aus.
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