Der Saubere Tod
und jedesmal zog es ihn wieder hinein, die Worte, die Worte; was machte es letztlich für einen Unterschied, ob sie erdacht waren oder nicht, ob er erdacht war oder nicht.
Ganz zu Anfang schon las er einen Satz, der die Person des Erzählers über seine eigene stülpte: Ich träumte immerzu von irgendwelchen Kämpfen. Das hatte er doch immer gedacht, war es also seine Geschichte, war er Mesrine, und wenn, was würde er noch tun; der Traum vom Kämpfen, wo es doch keine Kämpfe mehr gab. Von da an vermochte Johann nicht mehr zu unterscheiden zwischen sich und dem Erzähler, zwischen Bett und Buch, er nahm jedes Wort für bare Münze.
Dann näherte er sich der Lösung, dem Ausgang aus seiner Betonkapsel. Ganz kurz wurde die Tür aufgerissen, als er sich sagen hörte: Jetzt war ich gleichgültig geworden ... der Mensch wird erst dann ernsthaft gefährlich, wenn er vor denGesetzen und ihren Folgen keine Angst mehr hat. Die Gesetze und ihre Folgen, was war das? Handelte es sich um etwas, was auch nur im Buch vorkam? Johann wußte nur soviel, daß sie nichts mit ihm zu tun hatten, lächerliche Mosaike, deren Bedeutung, sofern sie eine besaßen, er vergessen hatte, und mehr als das: Ihre Existenz war ihm abhanden gekommen.
Dann bestrafte das Buch ihn. Seite um Seite hatte er sich hineingesteigert, mit dem Helden gelebt, um seine Gunst und Aufmerksamkeit gebuhlt, war sicher, ein Teil der Erzählung geworden zu sein, da kam die Zurückweisung: Du bist nicht ich, du warst es nie; in einem Satz, der gar nichts weiter sagte, aber Johann aus seiner Lektüre und seiner Betonkapsel sprengte: Du hast es gut getroffen, Mädchen! Er ist ein Mann, ein echter! Sie blickte ihn verliebt an und sagte zu mir: Ich weiß es, Jacques ... ein echter Mann!
Johann warf das Buch auf den Boden, vergrub seinen Kopf im Kissen, und alles stürzte auf ihn ein. Er hatte nichts erlebt, er hatte nie gelebt, zwanzig Jahre zerkrümelten in seiner Hand wie trockenes Laub, das Leben zählte nach Minuten, nach bewegten Minuten, nicht nach Minuten des Vergessens im Strom der Nächte, nach bewußten Momenten der Handlung, des Risikos, des Lebensrisikos, Momenten, die der Todesangst abgetrotzt werden mußten, den Ängsten vor Konsequenzen, Arbeit mit Hammer und Meißel unter Tage in ständiger Gefahr, daß alles zusammenbricht, aber ohne Angst davor, denn natürlich, natürlich würde es ohnehin irgendwann einstürzen, immer; doch er war nur mitgeschwommen, hatte nie gewußt wozu, hatte nie dagegen angelebt, nie die Minuten erkämpft, herausgehauen aus dem Fels von Langeweile, er hatte nur gelebt, weil sein Blut weiterfloß, seine Organe weiterarbeiteten, gelebt, weil man leben muß, er hatte nichts aus Haß geschaffen, nichts aus Liebe, nichts aus Angst und nichts aus Mut, nichts aus Verrücktheit,nichts aus Verzweiflung, nichts aus Zerstörungswut, nichts, weil er sich nie in Situationen begeben hatte, wo er handeln mußte, um zu überleben. Er hatte immer etwas werden wollen, statt etwas zu sein. Er hatte die Minuten nicht genossen, nicht ausgenützt, nicht Frauen geliebt, nicht gelacht, oh, wie Mesrine lachen konnte, wie er lachen wollte, nein, das war nicht er, und dann fiel Johann jener Satz wieder ein, der sein ganzes bisheriges Leben quittierte: Null.
Wer hatte ihn gesagt? Genau, es war Véronique gewesen, Bébé, die kleine französische Nutte, eine Bekannte von Peter, die sie im Sommer einmal besucht hatten in ihrer Wohnung in der Ohlauer. Bébé, die mit siebzehn aus Bordeaux abgehauen war, aus dem bürgerlichen Elternhaus, der trägen Stadt, den uralten Sitzbänken in der grauen Schule mit dem Blick durch die Fenstergitter. Bébé, eine der kleinen schicken Französinnen, die nichts wollten außer existieren, deren Pläne bis zum Abend reichten, deren Ehrgeiz nach einem lustigen Tag unter Freunden geht. Sie brauchte ein Dach über dem Kopf, und der es ihr zum üblichen Preis verschaffte, bot ihr auch die Arbeit in seinem Lokal am Stutti an, und da sie keine Wahl hatte, um Wohnung, Essen, Kleidung und Joints finanzieren zu können, später Alkohol, Speed und Koks, nahm sie die Arbeit an. Als Johann sie kennenlernte, trug sie ihr Haar kurzgeschnitten und weißblond gefärbt. Sie saßen im Querelle und unterhielten sich über Mick Jagger. Eine Freundin Bébés war auch dabei. Es ging darum, ob sie Jagger gerne kennenlernen würden. Natürlich, sagte Bébé. Und warum? Weil er witzig ist, sagte Bébé. Und was wolltest du mit ihm tun den ganzen
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