Der Schachspieler
Zeit über den Mistkerl gejammert, nicht ich. Vielleicht sollte ich Sie fragen, wo Sie in der Nacht waren.«
Der Koordinator deutet schließlich an, dass es sich seiner bescheidenen Ansicht nach um einen Zufall handele, eine Fügung des Schicksals. Der Chessman habe wahrscheinlich nach seiner Auszeit den Medienrummel um seine Person vermisst und sich deshalb ein Opfer gesucht, das ihm besondere Aufmerksamkeit einbringen würde. Und genau das habe er mit der Ermordung des designierten Vorsitzenden der Finanzaufsicht erreicht.
Hartzell lag nachts lange wach und dachte über dieses Argument nach. Es war durchaus plausibel, doch andererseits wollte ihn der Koordinator möglicherweise nur beruhigen, damit er seine Arbeit mit den beiden Buchhaltern ungestört weiterführte. Hartzell hoffte, dass er mit seiner Bestürzung über den Tod von Gottlieb und der Frau bei den Leuten aus Chicago einen falschen Eindruck erweckte: Sollten sie ruhig glauben, dass er davon völlig schockiert war, dann würden sie nicht mitbekommen, dass er etwas anderes im Schilde führte.
Der Koordinator war ein gewiefter Lügner und ein noch besserer Manipulator. Der Mann würde nie im Leben zugeben, den Mord an einem designierten Vorsitzenden der Finanzaufsicht in Auftrag gegeben zu haben, um Zeit zu gewinnen und Hartzell noch besser ausnehmen zu können. Es war jedenfalls ein wahnwitziger Plan, Gottlieb zu ermorden und es dem Chessman anzuhängen. Genie und Wahnsinn waren allerdings oft nur zwei Seiten derselben Medaille, und Hartzell wusste, dass Fiorella mit dieser Operation ein bestimmtes Ziel verfolgte. Besonders beunruhigte Hartzell der Gedanke an Fiorellas gefährlichste Waffe, den Mann, der jederzeit wie aus dem Nichts auftauchen konnte.
Hatte ihm die Sache mit Gottlieb schon eine schlaflose Nacht nach der anderen bereitet, so gab es für Hartzell nach dem Mord an Elaine Kellervick keinen Zweifel mehr.
»Ihr seid verrückt«, flüsterte er dem Mann zu, der ihm am Esstisch gegenübersaß. »Völlig durchgedreht.«
»Ich gebe Ihnen einen kleinen freundschaftlichen Rat … schließlich haben Sie ja einiges für uns getan. Man muss immer vorsichtig sein, was man sagt und tut, Drake. Nach allem, was ich über den Chessman gehört habe, ist der Kerl zu allem fähig. Es könnte doch sein, dass er von den Tatorten eine Kleinigkeit mitgenommen hat, etwas, das leicht mit einem Opfer in Verbindung gebracht werden kann. Es wäre verdammt unangenehm, wenn so ein Gegenstand auf einmal zu einer unpassenden Zeit an einem unpassenden Ort gefunden wird. Ja, Drake«, fügte der Koordinator leise mit einem durchdringenden Blick hinzu, der alles sagte, »man muss immer vorsichtig sein, was man sagt und tut.«
35
A ssistant Director Jund verschaffte sich einen Durchsuchungsbefehl für die Adresse in Richmond, die der Chessman Cady genannt hatte. Die Wohnung war an einen gewissen Dennis Swann vermietet, doch dessen Foto, das sie bei der Kfz-Zulassungsstelle in Virginia aufgetrieben hatten, zeigte eindeutig Jake Westlow, wie Cady trotz der etwas längeren schwarzen Haare und der John-Lennon-Brille sofort erkannte. Kein Zweifel: Es war Westlow.
Die Einzimmerwohnung befand sich über einem Billigmöbelladen in einem tristen Geschäftsviertel im Norden der Stadt. Cady verstand gut, warum sich Westlow hier einquartiert hatte. Erstens war der Seiteneingang absolut unauffällig: Niemand hätte vermutet, dass sich hier überhaupt eine Wohnung befand. Zweitens schlossen die Geschäfte hier alle um fünf Uhr, sodass das Viertel um sieben Uhr abends wie ausgestorben wirkte. Drittens überblickte man von den Fenstern im Wohnraum und im Badezimmer beide Kreuzungen. Viertens entdeckte Cady, dass Westlow beide Fenster so präpariert hatte, dass sie leicht heraussprangen, falls es jemand sehr eilig hatte. Fünftens hatte Westlow über den Fenstern kleine Ritzen ins Gemäuer geschlagen, über die ein sehr sportlicher Mensch binnen Sekunden auf das Hausdach gelangen konnte, um über die benachbarten Dächer zu entkommen.
Alles in allem ein nettes Versteck: unauffällig, abgelegen, mit einer hervorragenden Aussicht auf etwaige Aktivitäten vor dem Haus … und einem praktischen Notausgang.
Die Wohnungstür war im Gegensatz zum übrigen Gebäude neu: ein massiver Türrahmen aus Stahl und eine Sicherheitstür mit sechsfachem Verschlussbolzen, die selbst mit einem hydraulischen Spreizer nicht leicht zu knacken war. Die Tür hatte wahrscheinlich mehr gekostet als alles, was
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