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Der Schakal

Der Schakal

Titel: Der Schakal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Forsyth
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schlafen.

SECHZEHNTES KAPITEL
    Madame la Baronne de la Chalonnière blieb vor ihrer Zimmertür stehen und drehte sich zu dem jungen Engländer um, der sie dorthin begleitet hatte. Im Halbdunkel des Korridors konnte sie sein Gesicht nicht genau erkennen; es war nur ein aufgehellter Fleck im Schatten.Der Abend war recht amüsant gewesen, und sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie ihn vor ihrer Tür beenden sollte oder nicht. Die Frage beschäftigte sie schon seit einer Stunde.
    Einerseits war sie, obwohl sie Liebhaber gehabt hatte, eine achtbare verheiratete Frau; sich von wildfremden Männern verführen zu lassen, sobald sie allein in einem Hotel übernachtete, zählte nicht zu ihren Gewohnheiten. Andererseits war sie in einer Verfassung, in der sie sich Anfechtungen weniger denn je gewachsen fühlte, und ehrlich genug, sich das selbst einzugestehen.
    Sie hatte den Tag in den Hochalpen in der Kadettenschule von Barcelonette verbracht, um der Abschlußparade beizuwohnen, an der ihr Sohn als frisch gebackener Unterleutnant der Chasseurs Alpins, des alten Regiments seines Vaters, teilnahm. Obschon sie ohne Zweifel die bei weitem reizvollste Mutter unter den Zuschauern der Parade gewesen war, hatte ihr die Zeremonie, bei der ihr Sohn das Offizierspatent erhielt und in die französische Armee aufgenommen wurde, fast schockartig bewußtgemacht, daß sie nahezu vierzig und Mutter eines erwachsenen Mannes war.
    Obwohl sie gut und gern fünf Jahre jünger aussah und sich zuweilen zehn Jahre jünger fühlte, hatte sie die Tatsache, daß ihr Sohn zwanzig geworden war, inzwischen vermutlich mit Frauen schlief und in den Ferien nicht mehr heimkommen würde, um in den Wäldern, die das Schloß der Familie umgaben, auf die Jagd zu gehen, in Ratlosigkeit und Panik versetzt.
    Sie hatte die marionettenhafte Galanterie des schnarrenden alten Obersten, der die Kadettenanstalt leitete, und die bewundernden Blicke der apfelbäckigen Klassenkameraden ihres Sohnes lächelnd erduldet und sich plötzlich sehr einsam gefühlt. Ihre Ehe, das war ihr seit Jahren klar, bestand nur noch auf dem Papier, denn der Baron lebte in Paris und war zu sehr damit beschäftigt, den kleinen Mädchen nachzustellen, als daß er den Sommer auf dem Schloß verbracht hätte oder auch nur zur Vereidigung seines Sohnes erschienen wäre. Während sie in dem schweren Tourenwagen der Familie auf dem Rückweg aus den Hautes Alpes die kurvenreiche Straße nach Gap hinunterjagte, um die Nacht in einem ländlichen Hotel zu verbringen, kam ihr erstmals voll zum Bewußtsein, daß sie hübsch, attraktiv und einsam war. Außer den Aufmerksamkeiten älterer Galane wie des Obersten in der Kadettenanstalt oder frivolen und unbefriedigenden Flirts mit kleinen Jungen hatte sie nichts mehr zu erwarten, und zu irgendeiner karitativen Tätigkeit fühlte sie sich nicht berufen - noch nicht.
    Aber was Alfred in Paris trieb, während die halbe Gesellschaft über ihn und die restliche über sie lachte, war für sie eine einzige Beleidigung und Erniedrigung.
    Beim Kaffee, den sie in der Hotelhalle nahm, hatte sie sich über ihre Zukunft Gedanken gemacht und unversehens den Wunsch verspürt, sich von jemandem sagen zu lassen, daß sie eine Frau sei und eine schöne dazu, und nicht bloße Madame la Baronne. In genau diesem Augenblick war es dann geschehen, daß der Engländer auf sie zutrat, um sie zu fragen, ob er, da sie allein in der Halle waren, seinen Kaffe bei ihr trinken dürfe. Er hatte sie überrumpelt, und sie war ganz einfach zu überrascht gewesen, um nein zu sagen. In der nächsten Sekunde hätte sie sich am liebsten geohrfeigt, aber schon zehn Minuten später bedauerte sie es kaum mehr, ihn nicht abgewiesen zu haben. Schließlich war er ihrer Schätzung nach zwischen dreißig und fünfunddreißig, also im denkbar besten Alter. Obschon Engländer, sprach er fließend französisch; er sah recht gut aus und konnte amüsant sein. Seine geschickten Komplimente hatten ihr wohlgetan, und sie hatte ihn sogar zu weiteren ermuntert. Es war fast Mitternacht geworden, ehe sie aufstand und erklärte, anderntags in aller Frühe aufbrechen zu müssen.
    Er hatte sie die Treppe hinaufbegleitet und vor dem Fenster im Zwischenstock auf die bewaldeten Berghänge hinausgedeutet, die vom hellen Mondlicht beschienen wurden. Sie waren stehengeblieben, um einen Blick auf die schlafende Landschaft zu werfen. Als sie sich vom Fenster wegwandte, mußte sie feststellen, daß seine Augen nicht auf

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