Der Schatten des Chamaeleons
wenn er nur ein bärtiges Gesicht und eine weiße Dishdash sah, und er lief schnell über die Straße oder bog ab, um eine Begegnung zu vermeiden. Seine Abneigung uferte so weit aus, dass sie sich bald gegen jeden richtete, der keine weiße Haut hatte. Er wusste, dass das eine völlig irrationale Reaktion war, aber er versuchte nicht, dagegen anzugehen. Er fühlte sich besser, wenn er die Schuld an dem, was geschehen war, auf Menschen abwälzen konnte, die er nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte.
Willis hatte gewarnt, dass manche seiner Reaktionen ihn vielleicht überraschen würden. Er hatte über Traumafolgen im Allgemeinen gesprochen und darüber, wie der Schmerz, insbesondere der um die eigene Person, die Sicht verzerren konnte. Er redete Acland zu, nicht ständig über den Anschlag zu grübeln, den er sowieso nicht hätte verhindern können. Schuldgefühle, sagte er, seien mächtige und verwirrende Gefühle, die einem umso schwerer zusetzten, wenn genaue Erinnerungen fehlten. Wie immer hatte Acland sich verschlossen, um nicht über den Tod seiner Männer sprechen zu müssen.
»Ich habe keine Schuldgefühle«, hatte er gesagt.
»Aber was empfinden Sie denn?«
»Wut. Dass sie tot sind. Sie hatten Frauen und Kinder.«
»Wollen Sie sagen, dass Sie an ihrer Stelle hätten umkommen sollen?«
»Nein. Ich will sagen, dass die Iraker hätten umkommen sollen.«
»Ich finde, darüber sollten wir sprechen, Charles.«
»Nicht nötig, Doc. Sie wollten eine Antwort haben, und ich habe sie Ihnen gegeben. Ich habe nicht vor, gegen die Muslime in Großbritannien in den Krieg zu ziehen, nur weil ich wünsche, wir hätten die Kameltreiber erwischt, bevor sie uns erwischt haben.«
Aber irgendjemanden wollte er mit Krieg überziehen. In Träumen drückte er einen Pistolenlauf an einen Kopf und sah zu, wie die weiße Baumwollkeffiah sich mit Blut tränkte. In anderen Träumen richtete er sein Minimi-LMG auf eine heulende Menge Frauen in Burkas und mähte sie mit einer Geschwindigkeit von 800 Schuss in der Minute nieder. Schweißgebadet fuhr er aus dem Schlaf hoch, überzeugt, er hätte es getan, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Aber ob aus Entsetzen oder Triumph, konnte er nicht sagen.
Er wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte - die Migräneanfälle wurden immer schlimmer, die Träume immer erschreckender -, aber auf eine perverse Art war ihm der Schmerz als eine Form von Strafe willkommen. Es war nur gerecht, dass jemand bezahlte. Warum nicht er?
Fünf Wochen nach seinem Umzug nach London drehte Acland durch. Er saß an der Bar eines Pubs in Bermondsey ruhig und friedlich über einem Bier, als eine Gruppe bestens gelaunter junger Business-Schnösel in piekfeinen Anzügen sich neben ihn drängte. Offensichtlich hatten sie irgendeinen finanziellen Erfolg zu feiern. Der Alkohol begann zu fließen, die Stimmen wurden immer lauter, das Verhalten immer rücksichtsloser. Zwei-, dreimal rempelten sie Acland an, aber er hätte nicht reagiert, wenn nicht einer von ihnen ihn angesprochen hätte. Der Mann, der nur Aclands rechtes Profil erkennen konnte, tippte ihm auf die Schulter, als er keine Antwort bekam.
»Sind Sie schwerhörig?« Er schwenkte ein Glas Orangensaft vor Aclands Nase und wies mit einer kurzen Bewegung seines Kinns auf den freien Hocker auf Aclands blinder Seite. »Ich
habe Sie gefragt, ob Sie vielleicht aufrücken könnten, damit wir etwas mehr Platz haben.«
Er sprach in einem leichten Singsang, mit unverkennbar pakistanischem Akzent. Aclands Antwort erfolgte augenblicklich und ohne Überlegung. Er schlang dem Mann den rechten Arm um den Nacken und schlug ihm mit der linken Faust mitten ins Gesicht. Aufheulend und mit blutender Nase ging der Mann zu Boden.
Seine Freunde drehten sich erschrocken nach Acland um. »Um Gottes willen«, rief einer. »Was soll denn das?«
»Ich hab für Mörder nichts übrig«, erklärte Acland und wandte sich wieder seinem Bier zu.
Ein, zwei Sekunden blieb es still, dann bückte sich jemand, um dem Verletzten auf die Beine zu helfen. Der zog eine Serviette aus dem Spender auf dem Tresen und hielt sie sich, den Blick zornig auf Acland gerichtet, an die Nase. Er war völlig konventionell in dunklem Anzug, Hemd und Krawatte gekleidet, lediglich der Bart und der Orangensaft deuteten vielleicht auf einen Moslem hin. »So benimmt man sich in diesem Land nicht.«
»Ich bin hier geboren . Ich kann mich benehmen, wie ich will.«
»Ich bin auch hier
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