Der Schatten des Chamaeleons
Sie, Lieutenant Acland schützen zu müssen? Sehen Sie sich als Mutterfigur in seinem Leben?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich ihn schütze?«
»Weil Sie immer noch hier sind, Dr. Campbell. Glauben Sie nicht, dass er für sich selbst sorgen kann?«
»O doch, absolut - aber es ist mir noch nie passiert, dass vor meinen Augen ein Bekannter festgenommen wurde. Sie erleben so etwas wahrscheinlich andauernd« - ihr Blick war ironisch -, »aber ich kenne die Etikette in solchen Fällen nicht. Ich denke, es wäre ausgesprochen unhöflich, einfach zu gehen, ohne sich zu verabschieden.«
»Soll Inspector Beale Lieutenant Acland fragen, ob er möchte, dass Sie bleiben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre reine Zeitverschwendung. Er wird auf jeden Fall nein sagen.«
»Und Sie würden sowieso nicht gehen?«
»Richtig.«
»Das macht mich dann doch neugierig, Dr. Campbell. Er ist nicht Ihr Patient, Sie sind nicht mit ihm verwandt, zwischen Ihnen beiden besteht ein beträchtlicher Altersunterschied, Sie betrachten sich nicht als Mutterfigur, er braucht Ihren Schutz nicht - und trotzdem wollen Sie nicht gehen. Worauf basiert denn diese Freundschaft?«
Susan zeigte offen ihre Erheiterung. »Möchten Sie wissen, ob Charles und mich eine intime Beziehung verbindet, Superintendent?«
»Die Möglichkeit kam mir, ja.«
»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte sie in leicht spöttischem Ton. »Aber wissen Sie, so ein flotter Sechsundzwanzigjähriger wäre mir ein bisschen zu anstrengend. Wenn Sie schon Ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen, dann versuchen Sie es doch mal mit Bewunderung. Haben Sie einen Sohn?«
»Ja.«
»Wie alt?«
»Zweiundzwanzig.«
»Also nur vier Jahre jünger als Charles, der versucht, mit dem Tod seiner Leute, dem Ende seiner Karriere und mit seiner Invalidität zurechtzukommen. Sein Gesicht ist für immer entstellt, er wird sein Leben lang auf einem Auge blind sein, an Tinnitus
und Migräne leiden - und das alles hat er sich im Dienst am Vaterland zugezogen. Wie gut wären Sie im Alter von sechsundzwanzig Jahren mit so etwas fertig geworden? Wie gut wird Ihr Sohn damit fertig werden, wenn ihn ein ähnliches Schicksal ereilen sollte?«
»Er würde erwarten, dass ich ihn durchfüttere und dass seine Mutter ihn hinten und vorn bedient, genau wie jetzt«, sagte Jones ätzend, als er und Beale in den Beobachtungsraum zurückkehrten. »Er hat BWL studiert - auf meine Kosten natürlich -, und jetzt hockt er den ganzen Tag nur herum und macht Computerspiele. Ich habe gedroht, ihn rauszuwerfen, wenn er sich nicht eine Arbeit sucht, und sofort hat meine Frau mit irgendwelchem Gesülze von bedingungsloser Liebe angefangen. Können Sie mir mal sagen, was das heißen soll?«
»Ich denke, ›sich von den eigenen Kindern jeden Mist gefallen lassen‹«, erklärte Nick Beale lächelnd. »Wir müssen zu ihnen stehen, ganz gleich, was sie tun, denn es ist ja unsere Schuld, dass sie außer Rand und Band sind. Wir haben ihnen nicht genug Liebe geschenkt.«
»Eher zu viel wahrscheinlich.« Er warf Achmed Khan einen fragenden Blick zu. »Was erreicht?«
Der Constable nickte. »Sharon Carter sagt, dass Charles Acland um halb zwölf wieder zu Hause war. Sie hat sich im Fernsehen This Morning angeschaut, und sie bekamen Krach, weil er im Garten ein Feuer gemacht hat. Sie sagte, ihr Fenster wäre offen gewesen und sie hätte den Qualm bemerkt, als gerade der Modeteil dran war... und das ist anscheinend immer nach halb zwölf. Ich prüfe das noch einmal bei der Fernsehgesellschaft nach, aber die gute Sharon ist sich bezüglich der Zeit ganz sicher.«
»Was hat er denn verbrannt?«
»Alte Akten. Sharon sagte, dass die Asche noch draußen liegt, mit halb verkohlten Papieren und Pappendeckel darunter. Acland
hat das Feuer ausgetreten, als sie ihm drohte, die Polizei zu holen.«
»Weiß sie, wann er das Haus wieder verlassen hat?«
Khan nickte wieder. »Sie hat ihn um halb vier in ein Taxi steigen sehen. Erst hat er seinen Seesack verstaut, dann hat er ihr hinter dem Rücken noch den Finger gezeigt, ehe er selbst eingestiegen ist. Sie weiß, dass es halb vier war, weil da auf ITV2 gerade die Ricki Lake Show angefangen hat.«
»Ist es möglich, dass er in der Zwischenzeit weg war, ohne dass sie es bemerkt hat?«
Khan lachte amüsiert. »Das bezweifle ich. Sie hat mir von A bis Z heruntergebetet, was er im vergangenen Monat alles getan oder nicht getan hat. Die Frau hat anscheinend nichts anderes zu tun,
Weitere Kostenlose Bücher